Die Einwohner Lissabons nennen sie schlicht „die Brücke“: 2,3 Kilometer lang sind die Schienen und die sechsspurige Autobahn, die auf 70 Meter Höhe den Fluss Tejo überspannen. Es ist die drittgrößte Brücke der Welt, ein gewaltiges Bauwerk des 20. Jahrhunderts, eine Dauerschallkulisse für den darunterliegenden Stadtteil Alcantara. Im 19. Jahrhundert als Industrieviertel angelegt, fristete dieser Bezirk im Westen Lissabons lange ein Schattendasein. 2005 wurde ein Stadterneuerungsprogramm beschlossen. In den Leerständen hatte sich bereits eine hippe Nachtszene entwickelt, sogar der Schauspieler John Malkovich war Mitbesitzer eines Clubs in einer ehemaligen Lagerhalle. In den letzten Jahren verschwand immer mehr Altbestand, auch die letzten Hafenbarracken sind abgerissen. Stattdessen entstehen sündteure Luxusapartments. Ein Hotel liegt direkt unter der Brücke. Wer will denn hier wohnen, fragt man sich in dem Zimmer, dessen Fenster besser fest geschlossen bleibt. Der Ausblick ist trüb und der Lärm gewaltig. Hier verzaubern keine romantischen, engen Gassen mit den für Lissabon so typischen, wunderbar gekachelten Hausfassaden den Ausblick. Stattdessen donnern über, vor und neben dem Hotel Tag und Nacht Autos und Züge vorbei. Nicht einmal zum Flussufer kann man gelangen.
Aber dann entdeckt man einen Übergang über das Konvolut an Schnellstraßen – und steht auf einem wunderbaren Uferweg. Am 1. November 1755 zerstörte ein Erdbeben, ein Feuerbrand und vor allem ein gewaltiger Tsunami Lissabon, bis zu 100.000 Menschen starben, ein großer Teil ertrank. Danach ignorierte die Stadt den Fluss. In Alcantara wurde das Ufer mit Industrieflächen versperrt. 2010 ließ die Stadt einen Großteil davon abreißen. Seither gehört das Flussufer Fahrradfahrern, Fußgängern und den unermüdlichen Joggern. Der acht Kilometer lange Weg führt bis zum Turm Belém, dem berühmten Wahrzeichen Lissabons bei der Einmündung des Tejo in den Atlantik. Und kurz davor steht das MAAT, das Museum für Kunst, Architektur und Technologie.
Es ist ein ganz besonderes Museum, denn hier trifft Industrialisierung auf zeitgenössische Kunst. Insgesamt stehen dem erst vor einem Jahr eröffneten MAAT 7000 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung, aufgeteilt auf ein historisches Bauwerk und die neugebaute Kunsthalle.
Der alte Teil ist der monumentale Backsteinbau von 1908, der als Elektrizitätswerk diente und 2006 von dem Energieversorger EDP in ein Elektrizitätsmuseum verwandelt wurde. In der Kesselhalle stehen noch die gewaltigen Maschinen, mit denen Strom erzeugt wurde.
Dazwischen hängen Monitore, auf einem läuft Mikhail Karikis´ Film „Ain´t Got No Fear“: Britische Arbeiterkinder rappen von ihrem Leben im Industriegebiet der Isle of Grain und zeigen Wege, wie sie die Industrieanlagen in ihre Träume und Aktivitäten einbauen können – was für ein perfekter Beitrag für diesen Ort!
Der zweite Teil des MAAT ist die 120 Meter lange, nur 14 Meter hohe, muschelförmige, weißgekachelte Kunsthalle mit begehbarem, gewölbtem Dach. Von der Londoner Architektin Amanda Levete entworfen, ist der Bau von einem riesigen, stützenlosen Zentralraum im Inneren dominiert. Hier hat Bill Fontana jetzt der Brücke des 25. April eine Hommage eingerichtet.
Der 1947 geborene, US-amerikanische Künstler ist ein Pionier der Klangkunst. In seiner Personale 2014 im Linzer OK-Zentrum übertrug er Bild und Ton live aus dem Stahlwerk der Voestalpine. Für das Kunsthaus Graz hat er gerade „Acoustical Visions of the River Mur“ komponiert: Das Kunsthaus ist über seine Lösch- und Kühlsysteme direkt mit der Mur verbunden, wobei tropfende und rinnende Geräusche entstehen – die Fontana verarbeitete und in den Abluftrohren des Innenhofs wiedergibt. Nutzt Fontana in Graz die Rohre als Musikinstrumente, so ist es in Lissabon die Brücke samt Umraum. Dafür kletterte der sportliche Künstler immer wieder in dem Bauwerk herum, erzählte er stolz während der Eröffnung. Zuletzt entschied er sich für sieben Ausschnitte, darunter zwei Live-Kameras, und kreierte eine bombastische Soundkomposition.
„Alles, was man sieht, hat auch Sound“, erklärte er. So hört man jetzt in der Kunsthalle in Lissabon aus zehn Lautsprechern das Wasser, den Wind, manchmal den vorbeirasenden Zug, merkwürdig dunkle Geräusche, die er mit Schwingsensoren aufnahm, sieht dazu den unermüdlichen Verkehr und vor allem die Schönheit der Stahlkonstruktion. Manche Ansichten sind verdreht, um den Sog in die Tiefe zu verstärken. „Shadow Soundings“ nennt Fontana seine Installation, in der er die „singende Bücke“ von einem massiven Alltagsbauwerk in eine filigrane Erscheinung verwandelt – in eine „lebende Skulptur“, wie er Brücken nennt. Fontana „dekomponiert die Aura, um die Brücke neu entdecken zu können“, beschreibt es MAAT-Direktor Pedro Gadanho, ehemaliger Architektur-Kurator am New Yorker MoMA. Ein Teil des Sounds ist auch vor der Kunsthalle zu hören, verbindet die Brücke, das Wasser, das Ufer mit dem Museum. 250 Jahre nach der Katastrophe hat Lissabon offenbar dem Tejo verziehen und mit dem MAAT steht ein perfektes Sinnbild dafür am Ufer.
MAAT Lissabon, Bill Fontana, bis 12.2.2018; Artists´ Film International, bis 30.4.2018 www.maat.pt
veröffentlicht in: Schaufenster, Magazin Die Presse, 3.11.2017