Kunst & Wirklichkeit

14. Jul. 2007 in Ausstellungen

Keine Sicherheit, nirgends
Vom Umgang der zeitgenössischen Kunst mit der Wirklichkeit

NZZ, Literatur und Kunst

In den letzten Jahren hat die Kunst vermehrt auf die Ununterscheidbarkeit zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Manipulation und Authentizität gesetzt. Dieser Verlust einer verbindlichen Wirklichkeit erweist sich aber nicht als Zeichen für Verunsicherung, sondern als Potenzial.

Quer durch den Raum, auf exakt einem Meter Höhe, verläuft ein blaues Klebeband. Damit hat Edward Krasinski die Realität markiert. Ab hier wird es wirklich? Oder nur hier? Krasinski klebte diese Linie anfangs über Häuserwände und weiter über den Pullover der Tochter, später über Bäume, Stromkästen, Fensterläden, über Ausstellungswände und Bilder. Die blaue Linie wurde zu seinem Markenzeichen und zum Leitmotiv im seinem Spiel mit Wirklichkeiten.
In der ersten großen, posthumen Retrospektive des polnischen Konzeptkünstlers in der Wiener Generali Foundation zeigt sich jetzt eine weitere Funktion des Klebebands: Das Band hält offenbar die Welt zusammen. Es ist eine in eingefrorene Augenblicke zersplitterte Welt, auf die die eindrücklichen Speere aus den 60er Jahren hinweisen, die in der Luft schweben und denen kleine Einzelteile vorgelagert sind. Die typischen, filigranen Objekte oder die zerteilte Ansicht im „Atelier-Puzzle“ von 1997: die Fotografie seines Ateliers ist auf zwölf Stelen aufgeteilt. Die einzige Gewissheit in Krasinskis Spiel mit der Wirklichkeit scheint in der blauen Linie zu liegen.
Dieses Spiel mit oder Suche nach dem, was wir ´Wirklickeit´ nennen, tritt zur Jahrtausendwende in der bildenden Kunst immer deutlicher in den Vordergrund. Ob Künstler wie Thomas Demand die Wirklichkeit modellhaft nachbilden und dann fotografieren, ob sie wie Olafur Eliasson die Welt rund um unserer Naturgesetze inszenieren oder wie Werner Schrödl in Situationen manipulierend eingreifen und auf scheinbar harmlosen Fotografien festhalten – all diese Methoden basieren auf einer enormen Ungewissheit über jenes Konstrukt namens ´Wirklichkeit´.
II.
Eine verbindliche Definition von Wirklichkeit existiert nicht. Dafür sind die Zweifel an diesem Etwas überwältigend, und das seit Jahrhunderten. Nichts außerhalb meiner Wahrnehmung existiert wirklich, sagt ein Solipsist – aber wer sollte ihn dann hören? Gibt es überhaupt eine kollektiv verbindliche Wirklichkeit oder ist alles nur eine neuronale Konstruktion? Der Physiker Werner Heisenberg sprach davon, dass eine ´objektive Wirklichkeit´ „verdunstet“ zu sein scheint. Laut der Quantenphysik ist die Wirklichkeit grundsätzlich form- und eigenschaftslos und erhält erst im Moment der Beobachtung messbare Qualitäten. Und die Radikalen Konstruktivisten sind davon überzeugt, dass nicht die Wirklichkeit eine Illusion sei, sondern unsere Überzeugung, es mit einer physischen, unverrückbaren Tatsache zu tun zu haben.
Auch die Neurobiologie kann uns keine Gewissheit verschaffen. Unser Bild, das wir von der Wirklichkeit haben, ist das Resultat eines vernetzten Interpretationsprozesses auf der Grundlage von neuronalen Mustern. Das Gehirn liefert die Muster. Die Entstehung von Bedeutung ist ein Akt, der aus vielen Komponenten entsteht, die alle nichts miteinander zu tun haben. Wahrnehmung ist also eine neuronale Leistung, Wirklichkeit keine unverrückbare Tatsache, sondern unsere ureigenste Schöpfung. Wie aber kommen wir von einer Ansammlung von Elementarteilchen zu den immerhin kollektiv kommunizierbaren Objekten unserer Anschauung? „Der Weg zur Wirklichkeit geht über Bilder“ formulierte Elias Canetti einmal.
III.
Zum neunten Mal fand die Biennale Havanna im Frühjahr statt. Als wichtigste Ausstellung Lateinamerikas etabliert, stellen hier dieses Jahr 97 KünstlerInnen aus 47 Ländern aus. Bei aller faszinierenden Vielfalt konzentrieren sich die Bildwelten doch immer wieder auf ein Konstatieren: Auffallend oft findet sich die unmittelbare urbane und soziale Umgebung der KünstlerInnen manifestiert. So fotografiert Alejando Gonzalez die kubanische Jugend voller Exzentrik und Partyfreudigkeit, Raquel Schwartz dokumentiert bunte, bolivianische Verkaufsstände und Roberto Stephenson entwirft ein eindrückliches Bild Haitis zwischen extremen Nahaufnahmen von Menschen und urbanen Panorama-Aufnahmen. Aber es finden sich auch kritische Beiträge, das „North Street Project“ von Santiago Cal, Richard Holder und Ysser Musa, die die krassen sozialen Probleme ihrer Heimatstadt Belize City aufgreifen oder die argentinische Künstlergruppe „Proyecto Cartele“, die Verbotsschilder im öffentlichen Raum fotografierten, auf Kuben montierten und zu einer eindrucksvollen Säulenlandschaft zusammenstapelten, die von den BesucherInnen konzentriert gelesen wurden.
Die Biennale teilt sich auf siebzehn Räume auf, quer durch die Altstadt Havannas, von der Touristenattraktion des auf einem Hügel vor Havanna thronenden Fort bis zur geschäftigen Bahnhofshalle. „Dynamik der urbanen Kultur“ lautet das Thema der Biennale. Zwei weitere Ausstellungsorte führen uns aus der Hauptstadt hinaus, Richtung Westen zu kitschigen Mosaiken in dem idyllischen Fischerdorf Jaimanitas und Richtung Osten zu schrägen Nachbarschafts-Projekt-Skulpturen aus Müll und Schrott im scheußlichen Plattenbau-Vorort Alamar. Suburbane Folklolre. Die 9. Biennale Havanna thematisiert ´Urbanität´ vor allem als visuelles Phänomen, als Selbstvergewisserung einer Wirklichkeit, die enorm im Wandel ist – wozu auch die Frage gehört, wo Zentrum, wo Peripherie ist, woraus wohl dieser ausufernde Rundgang entstand. Dazu gehört aber auch die Frage, wo Folklore beginnt bzw. endet.
´Urbanismus´ ist ein interessantes Schlagwort der Jahrtausendwende, scheint ´urban´ in all seiner Komplexität oft schlicht synonym für ´real´ zu stehen. Für beide Begriffe gilt dasselbe, nämlich eine enorme Unverbindlichkeit, die offenbar durch den Bezug auf eine vornehmlich sichtbare Wirklichkeit aufgefangen werden soll.
IV.
„Why Pictures Now“ betitelt das Wiener MUMOK seine umfassende Fotografie-Ausstellung. Gezeigt werden 200 Werke von 73 KünstlerInnen der letzten 30 Jahre – der Aufbau einer neuen Film, Foto und Video-Sammlung: Dokumentarische Fotografie von Bernd und Hilla Becher, inszenierte Szenen von Jeff Wall oder David Lamelas, fotografierte Modellwelten von Lois Renner bis zur Fotografie als Realitätssuche bei David Goldblatt oder als Identitätszuschreibungen bei Shadafarin Ghadirian und Gülsün Karamustafa. Diese Auswahl fokussiert auf eine künstlerische Fotografie, die kaum dokumentiert, sondern das Medium offenbar zur Analyse einsetzt. Am deutlichsten ist das bei der „Atlas Group“ festzustellen, deren ´Recherche´ kaum zwischen Dokumentation und Fiktion unterscheiden lassen, im MUMOK etwa die Serie von politisch motivierten Autobomben-Attentaten im Libanon. Gerade weil es sich um eine in einem Guss entstandene, neue Sammlung handelt, kann hier eines sehr deutlich beobachtet werden: Statt eines Wahrheits- oder auch Abbild-Versprechens dient die Fotografie den KünstlerInnen (und darüber offenbar auch den Kuratoren der Sammlung) offenbar vor allem dazu, die eigenen Wirklichkeiten zu konstruieren.
„Wirklich wahr“ nannte das Ruhrlandmuseum Essen vor zwei Jahren eine Ausstellung, die künstlerische und angewandte Fotografie versammelte, um der Frage nach dem „Realitätsversprechen von Fotografien“ nachzugehen. Wir sehen Menschen in verschiedensten Situationen, eingefangen mit dokumentarischen Strategien wie in Presse-Fotos und Werken von Wolfgang Tillmans, in Inszenierungen von Authentizität wie in Dita Pepes oder Julika Rudelius´ Fotografien, die Rollenmuster pseudo-dokumentarisch in Frage stellen, aber auch auf digitale Bildbearbeitungen wie bei Jörg Sasses strengen Bildarrangements aus gefundenen Fotografien oder Vibeke Tandbergs Bildern mit ihrer eigenen digitalen Zwillingsschwester. Worüber berichten diese Bilder? Wird hier Wirklichkeit gespiegelt oder sind es nicht vor allem individuelle Erzählungen? Wieviel Bedeutung kann dem Bezeugungscharakter und der Beweisfunktion von Fotografie zukommen, wenn der Referenzpunkt ´Realität´ im Zweifel ist?
In seiner Publikation „Bild – Modell – Wirklichkeit“ stellt Ralph Christofori den abbildhaften Realismus in der künstlerischen Fotografie radikal in Frage. Zum Beweis wählt Christofori sieben Künstlern (Oliver Boberg, James Casebere, Thomas Demand, David Levinthal, Lois Renner, Laurie Simmons, Edwin Zwakman) aus, die fotografische Bilder von Modellen erstellen, darin die Fotografie infragestellend bzw. das, „was das Sprachspiel ´Fotografie´ uns scheinbar gelehrt hat zu sehen“. So gelte der Begriff ´Modell´ nicht nur für die gebastelten Objekte, sondern hier werde „der Modellstatus der Fotografie unmittelbar im Bild sichtbar“. So interessant diese These ist, bleibt doch die Überlegung: Wenn der ´Modellstatus´ bereits als Wesen der Wirklichkeit wahrgenommen wird, wenn kein wesentlicher Unterschied zwischen einem Modell und der Wirklichkeit, ebenso wenig zwischen Fiktion und Dokumentation erlebbar ist, dann sind diese Bilder weder ein Modell der Wirklichkeit, noch selbst ein Modell, sondern sie repräsentieren vor allem unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit!
Gehirne können die Welt nicht abbilden, sie müssen konstruktiv sein, erklärt der Neurowissenschaftler Gerhard Roth. Wahrnehmung ist immer ein konstruierender Prozess. „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Tatsachen, Wirklichkeit und Realität erst durch den besonderen methodischen Zugriff des Forschers entstehen“ schreibt der emeritierte Ordinarius der Technischen Uni Wien Gerhard Fasching in seinem Buch „Illusion der Wirklichkeit“. Ein methodischer Zugriff – auch im Alltag – besteht darin, etwas durch und als Wissensweitergabe wirklich werden zu lassen. Kollektiv wirksam wird ein solches Wissen durch die Annahme, jeder andere verfüge prinzipiell über dasselbe Wissen – „Erwartungs-Erwartung“ nennt es Siegfried J. Schmidt, oder in Bezug auf Handlungsorientierungen als „Unterstellungs-Unterstellung“.
V.
In den 60er Jahren war davon die Rede, dass Kunst ´die Wahrnehmung verändern kann´. Während der simpel-didaktischen und streng-politisierenden 90er Jahre als ´Unsinn´ in Abrede gestellt, scheint diese These heute wieder aktueller denn je. Wir malen unsere Wirklichkeit mit unseren Vorstellungen. Der Abgleich zwischen internen Weltmodellen und einer äußeren, kollektiv kommunizierbaren Wirklichkeit ist ein langsamer Angleichungsprozess, der durch Emotionen und Bilder gelenkt wird. Der bildenden Kunst kommt dabei eine spezielle Position zu. „Kunst kann sich primärer Wahrnehmungsmechanismen bedienen und den Umweg über rational-analytische Erklärungen meiden. Sie vermag das, weil sie in der Imagination der Rezipienten einen nahezu unbegrenzten Raum für Assoziationen vorfindet und diesen je neu und auf ungewohnte Weise gestalten kann“ schreiben Wolf Singer und Aglaja Stirn in ihrem Katalogbeitrag zur Ausstellung „Auf eigene Gefahr“ in der Schirn Kunsthalle 2003. Und Siegfried J. Schmidt, der mit „Geschichten & Diskurse“ seinen „Abschied vom Konstruktivismus“ erklärt, sieht in der Kunst „genau den Ort, wo Kontingenz kreativ bearbeitet wird, weil Freiräume in Anspruch genommen werden können, die aus pragmatischen Gründen ansonsten nicht zur Verfügung stehen.“
Die vor allem in der künstlerischen Fotografie zu beobachtende gezielte Ununterscheidbarkeit zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Manipulation und Authentizität, der Verlust der einen verbindlichen Wirklichkeit, erweist sich nicht als Zeichen für Verunsicherung, sondern als Potential: Es bedarf keines aufklärerischen Rufes nach einer Wahrheit hinter dem Vorhang des Scheins, keiner ´Gegenstrategien´ gegen mächtige Manipulationen, nicht einmal mehr eines blauen Klebebands. Es bedarf einer spielerischen Erfindungsfreude, um am Aufbau gleichberechtigter, unterschiedlicher Wirklichkeitsmodelle mitzuwirken – im Gegensatz zur Dogmatik der einen, absoluten Realität. Und das ist die vielleicht wichtigste Notwendigkeit im Zeitalter der Globalisierung. ´Wirklich´ bedeutete übrigens ehemals ´tätig´, ´wirken´ wird heute noch im Sinne von ´arbeiten´ benutzt. Wenn ´Wirklichkeit´ als ´im Handeln bestehend´ verstanden wird, als aktive Weltengestaltung, wird Zweifel produktiv!

veröffentlicht in: NZZ, 14.7.2007,  http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/keine-sicherheit-nirgends-1.527634

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