Lois Weinberger in Saint-Etienne – ein Besuch.
Für die einen ist er ein Inbild des Wilden, Unbezähmbaren, für andere ein Ungeheuer. Der „wilde Mann“ gehört zu den Archetypen vieler Kulturen und Religionen. Lois Weinberger fügt dieser Mischung aus Ehrfurcht und Angst vor der Natur noch eine dritte Ebene hinzu, denn er setzt in das grüne Gesicht kurzerhand eine Brille. Der domestizierte Wilde? Diese Fotografie sei aus seiner Beschäftigung mit Fragen zum Fremden und Fernen entstanden, erzählt Weinberger. Damals habe er Claude Levi-Strauss gelesen, der einmal schrieb, er habe Wilde gesucht und Menschen gefunden.
Dieser Blick auf ein Ineinander- oder Übergreifen von Kulturen leitet Weinberger in all seinen Werken. Sein Material sind oft Pflanzen, aber auch vergessene und übersehene Dinge wie all das vom Hochwasser angeschwemmte Zeug, das in bei seinem Atelier in Gars am Kamp aufsammelt. Nicht das Kultivierte interessiert ihn, sondern die „unsichtbare Natur“, „die Natur des Geistes,“ wie er es nennt.
„Ich stelle lieber im Urbanen als im Grünen aus,“ stellt er darum auch klar. Also steht der große Stahlkäfig auf Schotter und nicht auf der Wiese neben dem 21er Haus in Wien. Es wird Jahre dauern, aber irgendwann wird Angeflogenes darin wuchern. Und darum werden auch die bunten, Anfangs nur mit Erde gefüllten Eimer direkt neben dem Museum Moderner Kunst in Saint-Etienne stehen, und nicht auf dem Gartenstück davor. Das Haus verfügt nach dem Centre Pompidou über die zweitgrößte Sammlung moderner Kunst und zeigt parallel dazu Wechselausstellungen. Jetzt findet hier Weinbergers erste Retrospektive in Frankreich statt. 50 Autominuten von Lyon entfernt, in einer von Arbeitslosigkeit geprägten Stadt, hat der ehemalige MUMOK-Direktor Lorand Hegyi den österreichischen Künstler zu einer Personale eingeladen. In den drei Räumen zeigt Weinberger Skulpturen, Fotografien, Videos, Zeichnungen und Objekten seit 1970 und schafft es, die ganze faszinierende Komplexität seines Werkes zu vermitteln – und noch dazu der desolaten Situation Saint-Etiennes eine neue Perspektive zu schenken.
Ob die Plastikschalen, in denen angeflogene Samen auf einem gewässerten Papierstapel und auf alten Tierknochen aufgehen, der „wilde Kubus“ oder eben der „Wilde Mann“, in all seinen Werken konfrontiert uns Weinberger mit unserem gestörten Verhältnis dem Unkontrollierten gegenüber – und dessen Schönheit. Vor allem mittels der Spontanvegetation versinnbildlicht Weinberger immer wieder das gerade in St. Etienne akute Thema der Migration und stellt vieldeutige Fragen: Ab wann ist eine Pflanze heimisch, wo beginnt das Fremdsein, wem gehört die Erde und wo überhaupt verlaufen Grenzen? Lois Weinberger in Saint-Etienne: All die Schulklassen, die hier herkommen, erfahren diese Fragen nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern in einer optimistischen Perspektive, die sich auf die Besucher überträgt. Denn in den Werken Weinbergers erleben wir eine eindrückliche Wachsamkeit gegenüber Übersehenem, Vergessenem oder ungenügend Beachtetem, eine Wachsamkeit, die im Reich der Pflanzen seinen Ausgangspunkt nimmt, auf gesellschaftliche Ordnungen übertragbar ist und mit der man dann anschließend sogar in dieser desolaten Kleinstadt Schönheiten entdecken kann.
veröffentlicht in: Die Presse, 15.12.2011
Lois Weinberger, Musee d´Arte Moderne, Saint-Etienne, Frankreich, bis 5.2.2012