Manifesta10 St. Petersburg, 28. Juni – 31. Oktober 2014
Die Manifesta10 stationiert in der Hermitage St. Petersburg: 350 Räume, über 60.000 Ausstellungsstücke auf insgesamt 28 km Länge, 2500 Mitarbeitern, pro Tag gefühlte 10.000 Besucher – die Hermitage St. Petersburg ist ein eigenes Reich. 1764 von Katharina der Großen als Winterpalais und Museum gegründet, kommen hier Meisterwerke der europäischen Malerei, der asiatischen Kalligraphie, Kunsthandwerk aus allen Jahrhunderten bis zu ethnologischen Objekte aus Sibirien zusammen. Jetzt ist in diese ehrwürdigen Hallen zeitgenössische Kunst eingezogen – kann das funktionieren?
Der verwegene Plan stammt von dem Direktor der Eremitage, Mikhail Piotrovsky. Zum 250jährigen Jubiläum schlug er vor, die 1994 gegründete, europäische Wanderbiennale Manifesta in sein Haus zu holen und zu finanzieren – erstmals in die frühere Sowjetrepublik. Allerdings dachte er eher daran, im „General Stuff Building“ (GSB) im Ostflügel am Schlossplatz einige Räume herzugeben. Das Haus ist 20 Schritte vom Winterpalais entfernt, hierher übersiedelt die gesamte Sammlung des 20. und 21. Jahrhunderts. Doch Kasper König, Manifesta-Kurator und ehemaliger Direktor des Kölner Ludwig Museums, wollte sich nicht auf dieses Haus beschränken und konnte Piotrovsky zu einigen Interventionen in die historischen Sammlungsräume überzeugen.
Boykott?
Kurz nach Unterzeichnung des Vertrages jedoch kam das „unglückselige Anti-Homosexuellen-Gesetz“, wie es König nannte, „im März die Vereinnahmung der Schwarzmeerhalbinsel Krim durch Moskau“ und die kontroverse Politik Russlands in der Ostukraine. Einige Künstler der Manifesta 10 reagierten mit Boykott – auf eine Ausstellung, die Putin kaum weniger interessieren könnte, wie König erklärte. Und die Stadt offenbar auch nicht, möchte man ergänzen: Es gibt nicht ein einziges Plakat im Stadtraum, dass auf die Manifesta10 hinweist. König jedenfalls ließ sich nicht beirren, geriet aber bald an den Rand des Aufgebens ob der bürokratischen Wege und passiven Verweigerungsstrategien der ehrwürdigen Institution. Jeder Raum hat einen eigenen Kurator bzw. kleinen Direktor. Nicht passiert in dem Museum ohne schriftlichen Antrag, kein Raum wird freigegeben ohne solche Dokumente, keine Transportkiste durfte ohne Aufsicht geöffnet, keine Verbindungstür aufgesperrt werden – und von denen gibt es reichlich, die während der Voreröffnung mysteriöserweise immer mal wieder verschlossen waren.
Starker Auftakt
Keine Manifesta zuvor war von so vielen inneren und äußeren Kontroversen und Konflikten begleitet. Es grenzt an ein Wunder, dass die Eröffnung der Manifesta10 pünktlich stattfand, und das ist nur der Standfestigkeit von Kasper König zu verdanken. Jetzt also können die Werke aller 49 KünstlerInnen nahezu störungsfrei besucht werden. 27 Künstler zeigen in dem Ostflügel, beginnend mit einer eindrücklichen Abfolge: Juan Munoz´ Video-Raum, in dem ein kleines Mauseloch beleuchtet ist, dazu der Sound von dem Comic „Tom & Jerry“.
Danach Timor Novikovs Tücher, die einstürzende Hausfassade von Thomas Hirschhorn, der Tunnel mit Video und Katzenfotos von Erik van Lieshout und Elena Kovylinas Video einer Sessel-intensiven Protestkation.
Lieshouts Beitrag ist wohl der anspielungsreichste der Manifesta10: Neun Wochen verbrachte er im Keller der Hermitage. Dort leben seit jeher die Katzen des Museums, um die Mäuse zu fangen. Lieshout baute die kargen Kellerräume in Paradiese um und widmet ihnen oben in dem Tunnel eine kleine Ausstellung mit Zeichnungen und einem Video.
Man kann dieses Entree als Metapher für die gesellschaftspolitische Situation in Russland lesen, ein Katz- und Mausspiel, der Verlust der Fassade, der Weg durch einen Tunnel, das Agieren im Keller. Aber diesem starken Auftakt folgen dann thematisch vage Räume, die das Potential des starken Auftakts zurücknehmen: Bruce Naumans Filme seines Atelier mit einer kleinen Maus, eine Hommage an Maria Lassnig, Otto Zitkos knallrote Bilder, Olivie Mossets monochrome Malerei, Ann Veronica Janssens farbintensive Installation.
Nur Boris Michailows Fotos der Proteste auf dem Maidan in Kiew erinnern an den politischen Kontext. Vieles andere könnte auch in Berlin oder Köln oder sonstwo stehen.
Gast in St. Petersburg
Zwischen den Manifesta10-Beiträgen durchschreitet man immer wieder Räume, die stetig befüllt werden: Es sind Arbeiten an der ständigen Sammlung, die während der nächsten Monate in die Manifesta eingemischt werden – eine interessante Methode, den Status des westlichen Gasts in der Hierarchie des Hauses zu betonen! Selten erweckte die Manifesta bisher derartig deutlich den Eindruck, nur als beiläufiger Gast in der Fremde geduldet zu sein. Dieser Status bestimmt auch den Teil im Hauptgebäude.
Dort mischt sich die Biennale vorsichtig mit 14 Künstlern in die permanente Sammlung, Pavel Pepperstein in das Postamt, Katharina Fritschs Muschelmenschen in das ehemalige Boudoir von Katharina II. oder Joseph Beuys´ „Wirtschaftswerte“ (1980) zu Werken des 19. Jahrhunderts – zum Unmut des Hauses, die die Lebensmittel darin als Fest für die Mäuse erachten. Die Mäuse: ein freiwilliges und unfreiwilliges Leitthema hier, das fast als Metapher für die Position der Manifesta10 in St. Petersburg taugt. Wer wäre dann die Katze, die Eremitage, Putin, die Gesetzeslage?
Ab und an tricksen die Beiträge den Gastgeber aus, etwa Francis Alys, der seinen grünen Lada im Innenhof frontal gegen einen Baum gefahren hat. Es ist das Ende seiner Reise nach St. Petersburg, die er in seiner Jugend einmal vorhatte, die damals scheiterte und von der er sich jetzt endgültig verabschiedet. Es ist aber auch als Bild für vieles anderes zu lesen, für all die Versuche, etwas zu erreichen, was brachial endete.
Überzeugend und trotzdem unentschieden
Alles zusammen beeindruckt die künstlerische Qualität der Werke, zusammen mit dieser wunderschönen Stadt ist es unbedingt eine Reise wert. Und trotzdem ist es eine unentschiedene Manifesta: Phasenweise zu brav, dann doch wieder aufmüpfig mit Werken der russischen Drag-Queen Vladislav Mamyshev-Monroe und mit Marlene Dumas´ Zeichnungen prominenter Homosexueller – vor denen ein Schild aufgestellt ist: +16. Heißt: darf erst ab einem Alter über 16 geschaut werden. Absurd und fadenscheinig, ist der Raum doch offen – solche Situationen geben einen kleinen Einblick in das Prozedere, mit dem die Präsentation von Kunst hier zu kämpfen hat und das eindeutige, politische Statements ausschließt. Um aber nicht ganz darauf zu verzichten und auch die lokale Szene einzubauen, lud König die junge Kuratorin Joana Warsza für weitere zehn Beiträge im Stadtraum ein, wo beispielsweise die lange Geschichte der Petersburger Appartement-Ausstellungen als Form von Widerstand aufgegriffen wird und über die Laufzeit der Manifesta über 100 KünstlerInnen gezeigt werden.
Aber dann ist das internationale Publikum schon längst weitergezogen, der Katalog gedruckt und die Aufmerksamkeit verloren. Daher verwundert es nicht, dass die Manifesta10 vor Ort sehr kritisch wahrgenommen wird: im Hauptteil zu wenig Verbindungen zur Stadt, zu viele „Nato-Künstler“, wie es hier polemisch heißt, zu viel Längst-Bekanntes, dazu die Interventionen im Winterpalais zu unvermittelt, zu versteckt. Statt eines Dialogs zwischen historischer und zeitgenössischer Kunst, zwischen West und Ost, werden hier alte Hierarchien manifestiert. Die Manifesta wurde 1994 gegründet, um West und Ost zu verbinden, in St. Petersburg tritt das allerdings imperialistisch auf. Eine Begegnung auf Augenhöhe müsste anders aussehen – von beiden Seiten.
in kürzerer Form veröffentlicht in: Die Presse, 30.6.2014