Marlene Dumas im Palazzo Grassi, Venedig

15. Apr. 2022 in Ausstellungen

Palazzo Grassi, Venedig © Palazzo Grassi, Foto Matteo De Fina

Palazzo Grassi, Venedig © Palazzo Grassi, Foto Matteo De Fina

Mit der großartigen Personale von Marlene Dumas im Palazzo Grassi startet in Venedig die Kunstsaison 2022.
Langsam füllt sich Venedig wieder. Zwar noch weit vom Brachialtourismus der Präpandemiezeit entfernt, bilden sich schon wieder kurze Warteschlangen vor dem Markusdom, die Tische rund um die Rialtobrücke sind gut gefüllt. Am anderen Ende der Lagunenstadt ist es dagegen noch ruhig. Das Biennale-Gelände ist verwaist. Wie der Österreichische so sind viele Pavillons mit dicken Toren versperrt. Vor dem Deutschen Pavillon türmt sich Bauschutt, drinnen wird gehämmert. Die Fassade des US-Hauses wird gerade mit Bambus verkleidet und rund um Brasiliens Eingang liegen merkwürdige Formen, mit denen der Eingang offenbar umgestaltet wird. Hier kommt der Ansturm erst Mitte April, wenn die 59. Biennale Venedig nach Ostern öffnet. Im Palazzo Grassi dagegen beginnt die Saison bereits jetzt. Hier hat die große, wunderbar emotionale Schau von Marlene Dumas eröffnet. Direktor Bruno Racine spricht angesichts der großen Personale mit über einhundert Werken euphorisch von der „Wiedergeburt der Stadt“ nach den langen Pandemie-Monaten.

Marlene Dumas im Palazzo Grassi, 2022. Foto SBV

Marlene Dumas im Palazzo Grassi, 2022. Foto SBV

Mit Dumas bespielt erstmals eine Künstlerin die beiden Stockwerke des Palasts am Canal Grande. Anders als Damien Hirst, der uns 2017 im Eingang mit einer monumentalen Riesenskulptur empfing, benötigt die in 1953 in Kapstadt geborene, seit 1976 in Amsterdam lebende Künstlerin keine Überwältigungsformate, um uns in ihren Bann zu ziehen. Sie beginnt ihre Schau mit einem kleinen Bild – und einem großen Sujet: mit einem Kuss.
Dieser intime Moment ist ein Leitmotiv von Dumas, das die zentralen Themen ihres beeindruckenden Werks vereint: Emotionen, Erotik und Begegnung. Ihre Gemälde und Zeichnungen, aus Privatsammlungen und Museen, aber auch kaum Bekanntes aus ihrem eigenen Bestand, kreisen um Liebe, Gewalt, Zärtlichkeit, aber auch um Gender und Rasse. So entschied sie sich auch, ihre Werke in den vielen kleinen, hintereinander gereihten Räumen des Palazzo Grassi nicht chronologisch, sondern thematisch zu gruppieren. Auf den Kuss folgen hocherotische Bilder, die nackten Frauen und aufreizenden Posen sind nur mit wenigen Strichen und minimaler, fast transparent erscheinender, oft überraschender Farbe angedeutet. Provokant und humorvoll, scharf beobachtet und großartig in Szene gesetzt. Es gibt nur das ein Sujet im Bild, der Umraum ist reine Malerei, Farbe. Warum wählt sie für diese Bilder kleine Formate? Dumas: „Es gab eine Zeit, da wollte ich mit den Großformaten mithalten. Aber die intimen Momente benötigen das kleine Format.“ Die Ganzkörperfiguren dagegen sind überlebensgroß. Großartig die Räume zum Thema Saufen und Rauchen mit ihrem Selbstportrait „Drunk“: nackt, alt, mit knallroter Nase. Humorvoll und schonungslos!

Marlene Dumas im Palazzo Grassi, 2022. Foto SBV

Marlene Dumas im Palazzo Grassi, 2022. Foto SBV

Im ersten Stockwerk dominieren Körper und Sex, im zweiten Tod und Politik. In fast allen Werken sehen wir menschliche Figuren, oft sind es nur Köpfe – was manche dazu verleitet, von Dumas als Portraitmalerin zu sprechen. Berühmt ist ihre 2014 begonnene Tuschezeichnungs-Reihe „Great Men“, die sie für die Manifesta in St. Petersburg anfertigte: 40 berühmte homosexuelle Schriftsteller, Filmer und Tänzer von Nikola Gogol über Sergei Eisenstein bis Tschaikowski – es war Dumas´ Antwort auf ein 2013 in Russland erlassenes Anit-LGBT-Gesetz. Aber sie sei keine Portraitmalerei, erklärt sie im Gespräch: „Ich liebe Portraits, aber nur in einem großen Sinn. Es sind alles Individuen, aber in Serie“. Manchmal spricht sie von „Gesichts-Landschaften“, geprägt von starken Emotionen, denen man sich als Besucher kaum entziehen kann. Am Ende der Ausstellung hängt ein kleines Bild von 2003: „Der Tod des Autors“: nicht der Autor, sondern die Rezipienten bestimmen die Bedeutung der Werke. Was aber mit dem Titel der großen Schau gleich wieder relativiert ist: „Open-end“. Man meine, in den Arbeiten schnell was erkennen zu können. Aber damit ist die Bedeutung nicht endgültig erfasst. „Wo das Bild beginnt, endet es nicht“, erklärt sie. ´Ende´ habe dabei „fluide und melancholische“ Implikationen.

Marlene Dumas, Betrayal. Courtesy Marlene Dumas, Palazzo Grassi

Marlene Dumas, Betrayal. Courtesy Marlene Dumas, Palazzo Grassi

veröffentlicht in: Die Presse, 11.4.2022

Marlene Dumas, März 2022. Foto SBV

Marlene Dumas, März 2022. Foto SBV

Marlene Dumas, Palazzo Grassi, Venedig. 27.3.2022-8.1.2023