Michelangelo und die Folgen in der Albertina

16. Nov. 2023 in Ausstellungen

Michelangelo Buonarroti, Männlicher Rückenakt, um 1504. Albertina-Wien

 

 

Im Sommer 1504 erhält Michelangelo den Auftrag für ein Wandgemälde der Schlacht von Cascina im Palazzo Vecchio in Florenz. Er konnte sein Fresko nie ausführen. Irgendwann ging auch die Vorlage verloren. Von dem Entwurf existieren heute nur noch Kopien anderer Künstler. So wissen wir, welche Kriegsszene Michelangelo für sein Werk wählte: Während die florentinischen Krieger im Juli 1364 in der sommerlichen Hitze im Arno baden, werden sie von den pisanischen Truppen angegriffen. Michelangelos Entwurf zeigte Soldaten, wie sie gerade übereilt aus dem Fluss steigen. Die Figurenreihe darüber zieht sich hastig an und die oberste ist schon für den Kampf bereit.

Nackte, männliche Körper

Es ist die perfekte Szene für eines der einflussreichsten Bildmotive Michelangelos: nackte, männliche Körper. Diesem Thema widmet die Wiener Albertina jetzt eine fulminante Ausstellung, die in dieser Qualität in kaum einen anderen Haus möglich wäre. Ausgehend von ihren acht hauseigenen Michelangelo-Blättern wird anhand von insgesamt 139 Werken, darunter nur 19 Leihgaben, „Michelangelo und die Folgen“ gezeigt. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht die Werke des florentinischen Meisters, sondern der Kanon, den er schuf und der mehrere Jahrhunderte die männliche Aktzeichnung dominierte: Michelangelos einzigartige Kombination des Ideals  der Antike verbunden mit Beobachtungen der Natur.

Anatomische Studien

Voraussetzung dafür waren seine anatomischen Studien, bei denen er sich vor allem für die Muskeln interessierte. Welchen Unterschied dieses Wissen in der Darstellung der nackten Körper macht, können wir in der Schau deutlich im Vergleich etwa zu Antonio del Pollaiuolos „Kampf der nackten Männer“ (um 1470-´75) sehen. Die Variationsvielfalt der Bewegungen hier ist faszinierend, die Muskeln erinnern allerdings an ein zwar spannungsvolles, aber frei fantasiertes Liniengeflecht. Wie anders dagegen Michelangelo! Für die „Schlacht von Cascina“ entstanden 1504 „Zwei Aktstudien eines nach vorne stürmenden und eines nach rechts gewandten Mannes“ – zwei der badenden Soldaten. Mit Weißhöhungen hebt er hier gezielt die Muskeln hervor und akzentuiert die Bewegung, mit dunkleren Partien betont er die Anspannung.

Ideale von Männern

Was hier nur angedeutet ist, wird spätestens in seinen „Ignudi“ unübersehbar: die antike Nacktheit wird hier zur kraftstrotzenden Vitalität. Diese zwanzig nackten Jünglinge sind oberhalb des gemalten Gewölbe-Gesims an der Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom platziert. Es ist Michelangelos erstes erhaltenes Fresko und sein berühmtestes malerisches Werk. Zentrales Merkmal der auf Podesten sitzenden, athletischen Jünglinge ist ihre  spannungsgeladene Haltung. Skizzen dazu gehören zu der Sammlung der Albertina. Sie zeigen Vorstudien zu der für Michelangelos Männerakte so typischen Halbdrehung der Körpers – einer natürlich erscheinenden, tatsächlich unmöglichen Haltung. Denn Michelangelos Männerakte sind weit mehr als nur anatomische Studien. Wir sehen „von einer inneren Spannung bis zum Zerreißen bewegte Männer“, „Ideale von Männern, die die Welt bestimmen wollen“, wie es Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder beim Ausstellungsrundgang beschreibt – typische selbstbewusste Renaissance-Menschen, lebensbejahend und auf das Irdische konzentriert.

Raffaels und Tintorettos Männer

Und das hatte enormen Einfluss. Zu den größten Bewunderern Michelangelos zu seinen Lebzeiten gehörte der nur acht Jahre jüngere Raffael. Die Albertina-Zeichnung „Junger Mann, einen Alten tragend“ von 1514 zeigt deutlich, wie der für seine lieblichen Madonnenbilder berühmte Maler hier jede Muskelerhebung klar herausarbeitete. Raffael stirbt 1520, sein Todesjahr gilt als der Beginn des Manierismus – eines kurzzeitigen Stils, in dem Michelangelos Ideal in eleganten, gelängten Figuren übersteigert wird. Tintoretto scheint es fast zu paraphrasieren, wenn er ausgeprägte Muskelpartien wie einen „Sack voller Nüsse“ (sacco di noce) malt, wie es damals genannt wurde.

Rembrandt Harmensz van Rijn, Adam und Eva, Der Sündenfall, 1638. Albertina-Wien

Rembrandt als „Anti-Michelangelo“

Im 17. Jahrhundert beschäftigte sich vor allem Peter Paul Rubens intensiv mit den Aktzeichnungen, die er auch sammelte – einige daraus gehören jetzt zum Bestand der Albertina. Rubens fügt seinen idealtypischen Männern aber auffällige, expressive Gesichtsausdrücke hinzu. Wie anders dagegen Rembrandt, der in der Ausstellung als „Anti-Michelangelo“ betitelt ist. Der niederländische Meister folgt nicht dem Kanon des Ideals, sondern zeigt ein an den Widrigkeiten der Realität orientiertes Menschenbild. In seinem „Sündenfall“ von 1638 sind Adam und Eva nackt, ihre Haus ist mit feinen Schraffuren naturnah modelliert, allerdings als altes, grantig schauendes Paar.

Individualisierungen

Trotz solcher frühen Brüche mit dem italienischen Idealbild dominierte noch bis weit ins 18. Jahrhundert das Zeichnen männlicher Akte in komplexen Körperhaltungen und präziser Modellierung der Muskeln an den Akademien in Rom und Wien. Typische Beispiele dieser akademischen Akte sind die Zeichnungen der Klassizisten Anton Raphael Mengs oder Pompeo Batoni mit den Kreuzschraffuren und Weißhöhungen. Erstmals überhaupt ausgestellt werden in der Albertina Aktzeichnungen von Johann Peter Pichler und Joseph Walter, deren athletische Rückenakte an die „Schlacht von Cascina“ erinnern. Bei aller Nähe zu Michelangelo zeichnet ihre Modelle aber eine deutliche Individualisierung in den Gesichtszügen aus. Ab dem 19. Jahrhundert verliert die Idealisierung an Bedeutung, seit dem 20. Jahrhundert ist das Körperideal in der Kunst passé – zu wenig entspricht es der gelebten Wirklichkeit mit Industrialisierung, Kriegen und Entbehrungen.

48 weibliche Akte

In der Ausstellung allerdings beginnt hier ein überraschender, bemüht  wirkender Exkurs: 48 weibliche Akt. Zu Zeiten Michelangelos werden den männlichen Körpern lediglich attributiv weibliche Geschlechtsmerkmale aufgesetzt, weibliche Aktmodelle waren noch verboten. Ihre Körper waren auch später längst nicht so durchmodelliert wie jene der Männerakte, denn als Vorlage der Zeichnungen dienten ab dem 18. Jahrhundert Gipsabgüsse nach der Antike. Den Abschluss oder das „Nachwort“, wie es Schröder nennt, bildet dann ein Raum mit Werken von Egon Schiele und Gustav Klimt. Ob Männer- oder Frauenakt – jegliche Idee einer idealtypischen Aktdarstellung ist hier abgelöst von sexualisierten und pathologisierten Darstellungen. Es ist ein derartig radikaler Bruch, dass keine Rückkehr mehr möglich scheint – zumindest in der Kunst. In den Sozialen Medien von Dating Apps bis Tiktok dagegen boomt das Ideal gerade in der Zurschaustellung durchtrainierter männlicher Körper – in der Albertina können sie jetzt ihre Vorbilder studieren.

Michelangelo und die Folgen, Albertina, 15.9.2023-14.1.2023

veröffentlicht in: NZZ, 26.9.2023