Next stop Saudi Arabien: Dessert X und Diriyah Biennale

04. Apr. 2022 in Biennalen

Alicja Kwade Desert X AlUla 2022, Foto Lance Gerber

Frauen dürfen nicht Autofahren, nicht arbeiten, müssen sich verhüllen und nur schwarzes Gewand tragen – das war Saudi-Arabien gestern. Heute tragen die Frauen, was sie möchten, fahren gemeinsam in Restaurants oder alleine zu Ausstellungen. Zwar gilt noch immer ein striktes Alkoholverbot. Aber seit 2019 sind Tanz, Musik, Kino erlaubt. Kunst wird massiv staatlich gefördert. Denn der Kronprinz Mohammed bin Salman hat ein Ziel: „Vision 2030“ nennt er sein milliardenschweres Projekt, mit dem er die Wirtschaft auf die Zeit nach dem Ölboom vorbereiten will. Zentrale Themen dabei sind die Stärkung der Privatwirtschaft, Liberalisierung der Gesellschaft und Tourismus – der ohne kulturelle Angebote nicht zu erreichen ist. So wird Saudi-Arabien gerade zum neuen Mekka für zeitgenössische Kunst: Letztes Jahr fand „Ryadh Light“ mit 60 in der Stadt verteilten Lichtarbeiten als „Galerie ohne Wände“ in Riad statt. Im Dezember eröffnete die 1. Diriyah Biennale in der Hauptstadt (bis 11.3.) mit 64 internationalen Künstler:innen. Anfang März beginnt die bereits neunte Ausgabe von 21,39 in Jeddah.

Al Ula, Saudi Arabien. Foto SBV 2022

Und in der atemberaubenden Kulisse der Wüste von Al Ula haben 15 internationale Künstler:innen für Desert X bis Ende März ortsspezifische Werke installiert. Als Ableger der gleichnamigen kalifornischen Biennale ist das Projekt von einem US-Team im Auftrag der Royal Commission organisiert – und nur eine von mehreren ausländischen Aktivitäten im Land. In der zu einem Kulturinstitut gehörenden L´Art Pur Gallery zeigt das deutsche Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) deutsche Gegenwartskunst und England schloss gerade ein „Memorandum of understanding“ mit Saudi-Arabien ab. Die kulturellen Verbindungen in Sport, Tourismus und den Künsten sollen gestärkt werden.

Palastanlage Diriyah, Foto: SBV 2022

Bei so viel „cultural dialogue“, wie diese Strategie genannt wird, drängt sich eine Frage auf: Ist es überhaupt moralisch vertretbar, dem Ruf eines Herrschers zu folgen, der laut CIA den Auftrag zum Mord des Journalisten Jamal Khashoggi erteilt hat? In dessen Land noch immer ultrapuristische Rechte das Leben regeln mit Strafen von Stockhieben bis Enthauptungen? Saudische Künstler:innen verstehen derartige Vorbehalte nicht. Sie sind euphorisch über das neue Saudi-Arabien, in dem die Religionspolizei endlich entmachtet ist und das sich radikal nach außen öffnet. Auch die internationalen Künstler:innen wischen energisch solche Bedenken weg. Sie wollen die Öffnung mit ihren Beiträgen unterstützen, etwa für die Diriyah Biennale in dem nordwestlichen Vorort der saudischen Hauptstadt Riad. Mit dem Namen verbindet man dort die aus Lehm gebaute, 1446 errichtete Palastanlage. Sie gilt als Heimstätte der Herrscherfamilie und damit als Geburtsort des heutigen Staates. Seit 2010 ist die Anlage Weltkulturerbe und wird aufwendig restauriert.

Maha Malluh, Food For Thought “World Map”, 2021. Courtesy Canvas and Diriyah Biennale Foundation

Zwar findet die Biennale etwas entfernt davon in schnöden Lagerhallen statt. Aber Kurator Philip Tinari, Direktor des UCCA Center in Peking, knüpft an die lange Geschichte des Landes an: Er thematisiert mit dem titelgebenden, chinesischen Slogan „Crossing the river by feeling the stones“ eine Gesellschaft im Aufbruch. So beginnt die Biennale geerdet mit Richard Longs „Red Earth Circle“ aus roter Erde und endet mit Wolfgang Laibs spiritueller, weißer Landschaft aus Reis. Dazwischen entfaltet Tinari einen facettenreichen Parcours mit so großartigen Werken wie Tavares Strachans Skulpturen, die an berühmte, vergessene oder verschwundene schwarze Helden, Erfinder, Sportler, Musiker erinnern: als Gipsköpfe mit traditionellen afrikanischen Masken kombiniert oder als Eintrag in seiner raumfüllenden „Enzyklopädie der Unsichtbaren“. Das Interesse an Erinnerung teilt der auf den Bahamas geborene Strachan mit Manal Al Dowayan, einer der wichtigsten saudischen Künstlerinnen. Für ihren „Tree of Guardians“ recherchierte sie unbenannte und vergessene Frauen, die als „Wurzeln für die Hoffnungen und Träume heutiger Frauen dienen“, wie sie erklärt. Noch weiter zurück in der Zeit geht die in Kuwait geborene Monira Al Qadiri mit ihrer Videoinstallation „Holy Quarter“: Gedreht in der Wüstenregion Empty Quarter, begibt sich die Künstlerin auf eine Spurensuche nach unserer Geschichte zwischen Mystik, Wissenschaft und Fiktion.
Überzeugend kuratiert, voller leiser Kritik und deutlicher Bezüge auf das Gastland, könnte diese Biennale trotzdem überall auf der Welt stattfinden. Wie anders dagegen Desert X!

Shezad Dawood, Coral Alchemy I, Desert X AlUla 2022. Foto: SBV

Jahrhundertelang diente die Oasenstadt als Raststation an der alten Weihrauchroute. Bis heute sind erstaunlich viele Bauten der historischen Altstadt erhalten. Jetzt wird das Viertel restauriert. So groß wie Belgien, wird Al Ula touristisch erschlossen, wozu neben Boutique-Hotels auch 15 Museen gehören sollen – die „Galerien“ genannt werden, manchmal auch nur „assets“, um die westliche Konnotation zu vermeiden. Ironischerweise wird damit das ökonomisch motivierte Interesse an der Kultur betont. Fährt man dann allerdings in das zehn Autominuten entfernte Wüstental zu den 15 Werken von Desert X, ist man überwältigt von der Schönheit dieser Wüste. Spätestens hier sind alle anfänglichen Zweifel, Kritiken und Bedenken nicht mehr zu halten. Es ist ein magisch schöner, betörender Ort mit massiven, bizarr geformten Felsen und endlosem, rotem Sand. Vor einigen Millionen Jahren lag diese Wüste hier noch meterhoch unter dem Wasser des Roten Meeres – was Shezad Dawood zu seinen faszinierenden Skulpturen „Coral Alchemy“ inspirierte: Korallenähnliche Formen, deren Farben sich durch das Licht ändern. Als gehörten sie schon immer hier her, stehen sie im Sand und weit oben in den Felsen. Shaikha Al Mazrous in Felsspalten eingeklemmte Kupferobjekte leuchten schon von weitem verführerisch in der Wüste. „Messung der Physik der Leere“ nennt sie ihre Skulpturen, die an Kissen erinnern und Gegensätze versöhnen. Sicherlich, solche Ausstellungen verwandeln das Königreich nicht in eine Demokratie. Aber macht es nicht doch neugierig auf ein Land im Wandel?

Shaikha Al Mazrou, Measuring the Physicality of Void, 2022. Desert X AlUla 2022. Foto: SBV


veröffentlicht in: NZZ, 8.3.2022