Nomad St. Moritz 2021: Kunst oder Design?

13. Jul. 2021 in Kunstmarkt

NOMAD Summer Edition 2021 St. Moritz, Gallery Mercado Moderno, Ines Schertel, Foto: J'adore ce que vous faites!

NOMAD Summer Edition 2021 St. Moritz, Gallery Mercado Moderno, Ines Schertel, Foto: J’adore ce que vous faites!

Nach einem Jahr Corona-bedingter Zwangspause findet Nomad St. Moritz 2021 heuer als Summer Edition statt. Gegründet als Wanderveranstaltung, steht Nomad seit 2017 unter einer außergewöhnlichen Programmatik: hier soll Kunst und Design versöhnt werden. Kämpften beide Anfang des 20. Jahrhundert gemeinsam für ein besseres Leben, so gelten sie heute meist als Kontrahenten, ist die Kunst doch eher für das Inhaltliche, Design für die Dekoration zuständig. Kann ein Fusionieren funktionieren, ohne dass sich alles in reine Dekoration auflöst? Gegründet von Nicolas Bellavance-Lecompte und Giorgio Pace, bieten die rund dreißig Aussteller Collectibles an, also hochpreisige Sammlerobjekte: experimentelle Keramiken, hochwertige Lampen, skulpturale Vasen und design-nahe Kunstwerke. Um den besonderen Anspruch zu unterstützen, gastiert Nomad nicht in den üblichen Hotel- oder Messehallen, sondern in exklusiven Orten: Die erste Ausgabe begann 2017 in Monaco in der Villa la Vigie, die lang von Karl Lagerfeld bewohnt wurde; 2019 folgte Venedig, in dem 1473 erbauten Palazzo Soranzo van Axel (2019), und seit 2018 findet NOMAD in den heute als Museum genutzten, ehemaligen Privaträumen der Chesa Planta in Samedan nahe St. Moritz statt – ursprünglich im tief verschneiten Winter, heuer eben im Sommer.

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NOMAD 2021 St. Mortiz, VOLUMNIA GALLERY CHAIRS BY MARCO ANUSO, Foto: J’adore ce que vous faites!

In den historischen Räumen wirken die Präsentationen wie kleine Privatsammlungen, was die Versöhnung zwischen freier und angewandter Kunst erleichtert. Da ist etwa das kleine Wandpodest mit den zwei Kaffeehäferl, die mit Genitalien dekoriert sind – ein Werk des US-Künstlers Haim Steinbach (32.000 Euro, Galerie 107s-chanf), der mit solchen gefundenen Objekten in den 1990er Jahren Aspekte des Sammelns und der Alltagskultur in den Blick rückte. Kaum zu decodieren dagegen ist Marcin Rusaks kleines Metallobjekt in der Carwan Gallery. Sein Designstudio ist spezialisiert auf Materialerforschungen, „Protoplasting Nature“ (11.150 Euro) ist aber eindeutig als Skulptur angelegt. Und die Designgalerie Rossella Colombari aus Mailand zeigt Antonio Marras´ „Sculpture Lamp“ – der Name ist Programm! Diese Werke werden übrigens bis zum 18.7. auch online über Christie´s verkauft – ein neues Kooperationsmodell der Messe.

NOMAD Summer Edition 2021 St. Moritz, Galleria Luisa Delle Piane, Foto: J'adore ce que vous faites!

NOMAD Summer Edition 2021 St. Moritz, Galleria Luisa Delle Piane, Foto: J’adore ce que vous faites!

Die Preise lassen es schon ahnen, und fragt man die Galeristen, ist die Antwort einhellig: Diese Objekte werden als Kunst bezeichnet. Im Sinne von Immanuel Kant stimmt das durchaus. Kant schrieb Ende des 18. Jahrhunderts in seiner „Kritik der Urteilskraft“ vom „interesselosen Wohlgefallen“ an Kunst. Laut Kant wenden wir uns nicht dem Zweck, sondern der Ästhetik des Objekts zu, worunter Kant die „Empfindungen von Lust oder Unlust“ versteht, die „ohne alles Interesse“ am Gegenstand sind – und damit übrigens auch ohne Besitzwunsch. Ohne auf die differenzierte Theorie und deren Kritik hier weiter einzugehen sei nur betont, dass Kant damit auch eine Befreiung vom Mehrheitsgeschmack formulierte – etwas, was heute von Designobjekte bisweilen deutlicher eingelöst wird als manch allzu gefälliges Kunstobjekt, das möglichst vielen gefallen will. Damit spielt offenbar die Mailändische Galleria Luisa Delle Paine in ihrem überschwänglichen Raum: Auf die ornamentale, historische Tapete reagieren sie mit den skulpturalen Möbeln des 1980er-Designstars Alessandro Mendini und Armsesseln von Gianfranco Frattini, bezogen mit einem von Raf Simons entworfenen Stoff. An der Decke hängt Giovanni De Francescas Lampe aus Gips, die an Franz West erinnert. Üppig sind auch die aus Schafswolle aufgetürmten Hocker von Ines Schertel (Gallery Mercado Moderno). Ursprünglich Architektin, kam Schertel durch die Schafherde ihres Mannes in Brasilien zum Design und wiederbelebt jetzt ein altes Handwerk: die Wolle wird nicht im Webstuhl verarbeitet, sondern durch Reibung der Wollfasern gefilzt.

NOMAD Summer Edition 2021 St. Moritz, Clearing Gallery, Daniel Dewar and Gregory Gicquel, Oak dressed with pigs, 2020. Foto: J'adore ce que vous faites!

NOMAD 2021 St. Moritz, Clearing Gallery, Daniel Dewar & Gregory Gicquel, Oak dressed with pigs, 2020. Foto: J’adore ce que vous faites!

Das Handwerk hochleben lässt auch das Künstlerduo Daniel Dewar und Gregory Gicquel. Ihre Werke sind zugleich Holzskulpturen und Schränke wie die Kommode mit Schweinsköpfen, die jüngst in der Wiener Secession ausgestellt war und jetzt zu den eyecatchern von Nomad St. Moritz gehört (Clearing Gallery). Aber überwiegt bei diesen Arbeiten nicht doch das Dekorative die bisweilen vagen inhaltlichen Aspekte? Diese Diskussion halten die meisten Galeristen für gestrig. Oder wie es Galerist Andrea Caratsch bei der letzten Nomad klar formulierte: Design sei keine Dekoration, sondern „auf gleichem Niveau wie Kunst“: „Ich reihe Design in die Kategorie Skulptur ein“. Damit wäre der Konflikt gelöst: Alles ist Kunst.

veröffentlicht in: Die Presse, 11.7.2021

NOMAD St. Moritz, online-Auktion Christie´s, 8.-18.7.