Heimat ist nichts Gemütliches. Dieser Buchtitel geht mir bei der Fahrt durch das faszinierende Ötztal nicht aus dem Sinn. Knapp eine Autostunde von Innsbruck entfernt, mit dem Railjet ohne Umsteigen von Wien gut 5 Stunden Fahrt, ist das Tal eine beliebte Wanderdestination. Wie erleben die Einwohner ihre Heimat – ungemütlich? All die liebevoll gepflegten Bauernhöfe hier, die Blumenpracht, die Restaurants mit regionalen Produkten für lokale Speisen, gerne Knödel – zeugt das nicht von einer heimeligen Verbundenheit? Die perfekt inszenierten prähistorischen Fundstücke und die historischen Möbel in dem aufwendig restaurierten Oetzer Turmmuseum zeigen doch keine kritische Distanz, sondern einen großen Stolz der Tiroler auf ihre Heimat.
Um 1380 im romanischen Stil erbaut, mit gotischen Einbauten verändert, 1720 erweitert, 2004 zum Museum umgewandelt, kann man in dem ehemaligen Wohnturm auf fünf Ebenen mit rund 350 Quadratmetern bildreich die Kulturgeschichte des Ötztals studieren, darunter Zeugnisse des schon 1860 beginnenden Tourismus. Und jede Menge Gemälde des 159 Meter in die Tiefe stürzenden Wassers des berühmten Stuibenfall – alles wunderbar idyllisch! Je tiefer wir dann in das 65 Kilometer lange Tal mit seinen zwei Seitentälern am Ende gelangen, desto weniger verstehe ich die Heimat-Zweifel. Zugegeben, in Obergurgl wird es kurz etwas seltsam, die meisten Hotels sind geschlossen, die Straßen abends menschenleer. Auf 1930 Meter gelegen, ist es die höchste Gemeinde Österreichs – aber vor allem ein Ferienort. Wintertourismus. Das Sommerpublikum wird gerade erst entdeckt.
Auf unserer Bergwanderung zur Langtalereckhütte sind wir dann erstaunt, wie viele Menschengruppen über den Erlebnispfad Zirbenwald wandern. Unser Wanderführer Michael Zwischenbrugger versorgt uns mit Details zum Gebiet: 12 Wanderwege und 22 Bergwege gibt es hier, man geht über uralte Schäferwege und gar nicht so alte Schmugglerpfade – davon zeugen noch die massiven, kleinen Steinhäuser neben dem Weg: ehemalige Zollhäuser, unter Hitler gebaut, um den Schmuggel von Tabak, Salz und sogar Musikinstrumenten zu unterbinden.
Stolz betont Zwischenbrugger, dass es im Ötztal 203 Gipfel über 3000 Meter gibt – österreichischer Rekord! Und nirgendwo gelange man so schnell zu den eiszeitlichen Gletschern wie von Obergurgl aus. Der Ortsname referiert auch darauf: Gurgl sei romanisch und komme von ´Ort im Gletscherkranz´, weiß Zwischenbrugger. Auch die Gletschernamen wie Hintereisferner oder Vernagtferner sind romanisch, die Endsilbe ´ferner´ ist keine Andeutung der Entfernung, sondern kommt von ´Firn´, althochdeutsch für ´vorjährig´.
Dieser namensgebende Firnschnee wird gerade hochaktuell. Kein Gespräch hier, in dem es nicht um das Schmelzen der Gletscher geht. Seit dem Hochstand der kleinen Eiszeit um etwa 1850 werden die Gletscher kleiner, aber heuer sei es besonders drastisch, erklärt Zwischenbrugger: „Seit Juni gehen die Gletscher schon ins Minus“, der Saharastaub und die sich aufwärmenden Felsen tragen dazu bei. Oben auf der Langtalereckhütte auf 2480 Meter angekommen, sind wir dann umringt von diesen majestätischen, weißen Flächen. Die Hütte ist ausgebucht, frühmorgens steigen von hier die Gruppen meist junger Männer perfekt ausgerüstet mit Seilen, Pickeln, Steigeisen und Helmen über die Gletscher zu den Gipfeln auf. Was aber bloß fasziniert die alle so an den uralten Eisschichten? Ist es das Glitzern? Ein Versprechen auf unberührte Natur? Der Kontrast zu den zerklüfteten Felsen? Oder ein Heimatgefühl, eine tiefe Verbundenheit? Es sei die Faszination des Bezwingens und das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe, erklärt ein alpiner Gast aus dem Waldviertel. Weitaus lapidarer fasst es Hüttenwirt Georg Gufler zusammen: „Gletscher gehören einfach dazu.“
An nächsten Tag geht es ins Nachbartal nach Vent. Anders als in Obergurgl verteilt sich der Tourismus in Vent auf 45 Prozent Sommer- und 55 Prozent Wintergäste. Rund ums Jahr leben hier 140 Menschen, Vent sei noch ein lebendiges Dorf, betont Adolfine Pirpamer. Hier spricht man dann wohl auch die Ötztaler Mundart, die 2010 zum immateriellen UNESCO Weltkulturerbe erklärt wurde. Ihr Mann Luis, ein erfahrener Bergführer, und ihr Sohn Markus Pirpamer halfen 1991 bei der Bergung der 5300 Jahre alte Gletschermumie Ötzi. Ihr Enkel tritt jetzt in die Fußstapfen des Opas und macht die dreijährige Ausbildung zum Bergführer – seit zwanzig Jahren der erste, der diesen anspruchsvollen Beruf wählt, erklärt Vater Gerhard Moser, Chef vom Hotel Post stolz. Ohne Führer kann man entspannt zur Breslauer Hütte auf 2844 Meter aufsteigen oder im Tal zum Hohlen Stein spazieren: Hier fanden Archäologen eine prähistorische Feuerstelle, nachweisbar anhand der Holzkohlereste und verstreuter Silexsteine – diese Feuersteine kommen im Ötztal nicht vor, Jäger oder Viehhirten müssen das Gestein für Werkzeuge vor rund 10.000 Jahren v. Chr. aus dem Süden mitgebracht haben. Anhand solcher Funde weiß man, dass die Besiedlung des Ötztals klimabedingt von oberhalb der Baumgrenze langsam talwärts verlief. Oder man folgt dem Skulpturenpfads bis zu den drei Rofenhöfen, der höchstgelegenen Siedlung der Ostalpen.
Immer noch der Heimat auf der Spur führt unser Weg schließlich nach Längenfeld mit dem wunderbaren historischen Ortskern. Über die Jahre konnten die Ötztaler Museen hier Bauernhäuser, Kornspeicher, Ställe und Mühlen ankaufen und behutsam restaurieren, um anschaulich die bäuerliche Alltagskultur des Tals zu dokumentieren. Herzstück ist das Heimatmuseum, eingerichtet in einem Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert. Bis 1960 lebten hier noch zwei Familien, wir können ihren Alltag erahnen angesichts der Möbel in den niedrigen Stubenkammern, der völlig verkohlten Rauchküche und dem simplen Plumsklo – sind es diese Wohnverhältnisse, die Heimat ungemütlich werden lassen? Welch ein krasser Kontrast zu unserem wunderbaren 5 Sterne-Wellness-Hotel Waldklause mit Saunawelt und Pool! Oder ist es die mühselige Arbeit früher in der Flachsproduktion, die hier im Museum erklärt wird? Oben auf dem Dachboden findet sich dann die Antwort. Hier ist eine kritisch-sachliche Heimat-Ausstellung aufgebaut, zu der auch das Anfangs erwähnte Buch von Maria Heidegger erschien. Heimat wird hier nicht als negativer, sondern als spannungsgeladener Begriff präsentiert. Wir erfahren, dass Hochzeiten hier früher nur mit offizieller Erlaubnis möglich waren – je ärmer, je unwahrscheinlicher; dass Frauen eine Wallfahrt nach Gries antraten, weil es oft ihre einzige Möglichkeit zum Reisen war; dass die Zufahrten zu den Dörfern früher oft versperrt, die Arbeit auf den Almwiesen schwierig war – und ist, denn noch immer werden viele Wiesen händisch mit der Sense gemäht. All das gehört zu Heimat, und sicher auch die Sorge um die Gletscher. Wie es ein Zitat im Museum zusammenfasst: Heimat, das sind die Berge im Ötztal.
veröffentlicht in: Die Presse, 4.9.2022