Gerade wurde in New York das Werk „Le femmes d´Alger“ von Pablo Picasso für die Rekordsumme von knapp 180 Millionen Dollar inklusiv Aufschläge versteigert. Vor 18 Jahren war „Le femmes d´Alger“ bereits im Handel und erzielte damals ebenfalls auf einer Christie´s-Auktion 31,9 Millionen Dollar. Wie ist diese Verfünffachung zu erklären?
Ist der aberwitzige Preis auf den überhitzen Kunsthandel zurückzuführen, in dem ein Picasso allemal eine sichere Sache ist, gleich zu welchen Kosten? Nein, der Aspekt einer lukrativen Anlage allein erklärt dieses Ergebnis nicht. Der Kunstmarkt befindet sich seit mehreren Jahren in einem stabilen Aufwärtstrend, bei allen Rekordmeldungen gehen die Preissteigerungen dennoch moderat hoch. Dieses Ergebnis zeigt mehr als nur die Jagd nach Trophäen: Zum einen spiegelt es wider, wie sehr die gestiegene ökonomische Bedeutung der Kunst parallel geht mit der gesellschaftlichen Akzeptanz. Kein Künstler des 20. Jahrhunderts ist ähnlich berühmt und geschätzt wie Pablo Picasso – Andy Warhol kommt mit seinen seriell gefertigten Drucken mit beliebigen Motiven der Innovationskraft von Picassos Bildern nicht annähernd nah. Warhols Werk ist Ausdruck eines Moments in der Geschichte des letzten Jahrhunderts: die Pop Art erzählt vom Konsumrausch, von einem neuen, einem zutiefst amerikanischen Lebensgefühl. Pablo Picasso dagegen ist ein Künstler der alten Schule, der zeitlebens auf der Suche nach neuen Stilen war. „Les femmes d´Alger“ malte er mit 74 Jahren, es vereint derartig viele Stile, kunsthistorische Anspielungen und Referenzen, dass es zu Recht als das Meisterwerk eines Meisters angepriesen wurde.
Zum zweiten verlockt „Le femmes d´Alger“ mit einem simplen Motiv: nackte Frauen. Lauter nackte Brüste, Bäuche und Hinterteile der „Frauen von Algier“ sind zu sehen – womit das Bild in einer langen, sehr französischen Tradition steht.
In Picassos typisch abstrahiert-figurativem Stil zeigt das Bild eine Haremsszene – und damit einen Ort, der die Männerphantasien der Europäer seit dem 16. Jahrhundert anregt. Picasso malte das Bild 1954. Der 1881 geborene Picasso war ein scharfer Kritiker des spanischen Diktators Franco. Wegen dieser Gegnerschaft hatten die Deutschen ihm während der Besatzung von Paris 1940 bis ´44 Reise- und Ausstellungsverbot erteilt. Nach den unfreiwilligen Jahren der Isolation suchte Picasso einen neuen künstlerischen Stil, es beginnt sein Spätwerk. Darin vereint er seinen frühen kubistischen Stil mit der farbenfrohen Malerei eines Henri Matisse und dem Studium der Alten Meister – eine Mischung, die in „Les femmes d´Alger“ großartig zusammenfindet.
Motivisch lehnt sich Picasso an Eugène Delacroix´ (1798-1863) „Frauen von Algier“ an. Der französische Maler hatte 1834 eine Haremsszene gemalt. Im Westen stellte Mann sich den Harem damals gerne als Privatbordell vor. Tatsächlich bedeutet ´Harem´ im arabischen ´geheiligter Bereich´ und ist ein bewachter Wohnbereich eines Hauses, in dem die weiblichen Mitglieder eines muslimischen Familienoberhauptes wohnen und arbeiten.
Europäische Besucher erhielten hier keinen Zutritt. Delacroix allerdings behauptete, von einem zum Islam übergetretenen Christen in Algeriens Hauptstadt Algier in seinen Harem eingeladen worden zu sein. Er habe „Frauen und Kinder inmitten einer Menge von Seide und Gold“ gesehen. Anders als auf den meisten Harem-Bildern sind Delacroixs „Frauen von Algier“ zwar nicht nackt, die Kinder und auch die alltägliche, häusliche Tätigkeiten sind jedoch ausgespart. Stattdessen rauchen die Frauen eine Shisha, sitzen und liegen untätig herum, wie im Kontaktraum eines Bordells – auch hier kommt wieder das sexuell aufgeladene Klischee ins Bild, obwohl Delacroix es laut seiner Aussage besser wusste.
Picasso potenziert in seiner Harem-Version diese Sehnsucht nach Exotik und Erotik noch um ein Vielfaches. Er malt die Frauen nackt, vorne räkelt sich sogar eine Odaliske. Damit bezeichnet man Haremsdienerinnen – ein gängiges Sujet im Orientalismus. Sie wurden meist unbekleidet oder mit durchsichtigem Schleier auf dem Teppich liegend dargestellt. Picasso geht mit der Liegenden und dem Schleier der Stehenden weit über das Werk seines Vorbilds Delacroix hinaus, steht aber trotzdem tief in der Tradition französischer Malerei: Das Thema der Odalisken und der sexuell aufgeladenen Haremsszenen, die exotische Überhöhung der willfährigen Frau, fand außerhalb Frankreichs kaum Nachahmungen.
Aber nicht nur die Tradition des Orientalismus und Eugen Delacroix, auch den Stil seines Freundes Henri Matisse arbeitet Picasso in dieses Bild hinein. Matisse starb im November 1954, im Dezember begann Picasso mit den „Frauen von Algier“ – die Reihe wird oft als Hommage an seinen verstorbenen Freund bezeichnet. Picasso malte innerhalb von zwei Monaten 15 Versionen dieses Motivs und fertige 100 Studien auf Papier an. Das versteigerte Bild trägt die Versionsnummer O und ist das letzte der mit „A“ beginnenden Reihe. Es ist kompositorisch am meisten ausgereift und von großartiger Farbigkeit. Charakteristisch für Matisse´ Bilder sind emotional eingesetzte Farben, die nicht den Lokalfarben der Gegenstände folgen, sondern subjektiven Empfindungen. Oft besteht der Bildhintergrund aus abstrakten, geometrischen Formen, die mit einer Vielfalt von freien Ornamenten bedeckt sind. Dass es sich dabei um Tische, Wände, Fenster und ähnliches handelt, vergisst man in diesen sinnlichen Farb- und Formwelten fast. Picasso kombiniert diese stilistischen Merkmale in seinem Harems-Bild mit der Komposition von Delacroix und fügt eine große Portion Erotik hinzu.
Aber sind Picassos „Frauen von Algerien“ wirklich nur eine sexuell aufgeladene Szene, die verschiedene künstlerische Stile vereint? Picasso malt seine Werke 1954, gut einen Monat nach Ausbruch des Algerienkrieges, der bis 1962 dauerte und dem afrikanischen Land die Unabhängigkeit brachte. Picasso hatte immer wieder auf Krisen und Kriege seiner Zeit reagiert, „Guernica“ ist eine große Anklage gegen das Franco-Regime, mit der Reihe „Raub der Sabinerinnen“ reagierte er auf die Kubakrise 1962 – und mit den „Frauen von Algier“ antwortete er auf den Algerienkrieg? Das Bild symbolisiere „das Ende der französischen Fremdherrschaft“, schrieb die Wiener Albertina zu ihrer großen Picasso-Ausstellung „Frieden und Freiheit“ 2010. Kann man nackte Haremsfrauen in ungebrochener Orientalismus-Tradition ernsthaft als politische Stellungnahme lesen? Das kann dieses Werk sicherlich nicht leisten, aber ein Meisterwerk ist es allemal – und davon kommen immer weniger in den Handel.
veröffentlicht in: Die Presse, 17.5.2015