Piktorialismus: die Fotografie wird malerisch

10. Feb. 2023 in Ausstellungen

Katalog Piktorialismus, Albertina Modern, Wien, 2023

Zwei Briten, der eine Maler, der andere Chemiker, betrieben in den 1840er Jahren vier Jahre ein gemeinsames Fotostudio. In der kurzen Zeit legten sie mit ihren Fotografien von Landschaften bis zu Straßenszenen die Grundlage für eine neue Stilrichtung: Piktorialismus. Der Begriff ist abgeleitet von ´pictorial´, also ´bildhaft´, und kennzeichnet eine fast ein Jahrhundert anhaltende Bildästhetik, die jetzt im Zentrum einer hervorragenden Ausstellung in der Albertina Modern steht. Denn hier sehen wir nicht nur zentrale Höhepunkte dieser Kunstfotografie, sondern auch die Vorbilder und die Weiterentwicklung in der Amateur- und Profifotografie der Zwischenkriegszeit. Gleich zu Beginn zeigen die Gemeinschaftswerke von David Octavius Hill und Robert Adamson die zentralen Kennzeichen des Piktorialismus: Dank der groben Fasern des verwendeten Aquarellpapiers wirken die abgelichteten Szenen unscharf, der Bildaufbau ist präzise durchkomponiert, die Arrangements schlicht – Malerei und Fotografie sollten ebenbürtig sein. Darum auch verzichteten die Piktorialisten anders als die professionellen Fotografen auf Detailgenauigkeit und Dekorationsobjekte. Stattdessen konzentrieren sich die Amateure auf eine hochästhetische Bildsprache, wenn Julia Margaret Cameron etwa ihre Portraitmodelle für kurze Belichtungszeiten im Freien vor aufgespannten Stoffen posiert. So wirken die Konturen weich und der diffuse Hintergrund höchst malerisch. Henry Peach Robinson geht noch einen Schritt weiter, wenn er bis zu fünf Negative zu einem Bild zusammenmontiert.
Anfangs vor allem eine englische Bewegung, folgte 1887 in Wien die Gründung des elitären Camera-Clubs. Hier trafen sich Amateurfotografen und auch Fotografinnen, meist wohlhabende Bürger und Adelige der Monarchie, die sich das teure Equipment leisten konnten. In ihrem internationalen Netzwerk organisierten sie Ausstellungen, gaben Publikationen heraus, experimentierten mit immer neuen Materialien und Bildsprachen. Manche wie Nathaniel von Rothschild konzentrierten sich auf Reisefotografien, Robert von Stockert perfektionierte üppige Stillleben, deren Blumen er im eigenen Garten züchtete und dank des Farblichtdrucks die ganze Farbenpracht wiedergeben konnte. Im Camera Club trafen sich auch Hugo Henneberg, Heinrich Kühn und Hans Watzek, die bis heute zu den herausragenden Künstlern der historischen Fotografie Österreichs gehören. Ganz im Sinne des Piktorialismus wollten sie die Kunstfotografie der Malerei gleichstellen – was ihnen mit ihren großartigen Kompositionen auch gelang. Grundlegend dafür war die Erfindung des Gummidrucks, mit dem mehrere Schichten übereinander gedruckt werden konnten und so ein breites Spektrum an Tonwerten möglich wurde. Manuelle Eingriffe machten zudem jeden Abzug zum Unikat – und zu gefragten Sammelobjekten. Der grafische Oberflächencharakter unterstreicht dabei den Eindruck der Unschärfe. Der gesamte dritte Raum der Ausstellung gehört diesen Fotografien voller Helldunkel-Kontrasten.
Das „Kleeblatt“ oder „Trifolium“, wie sich die drei Fotografen nannten, zerbricht unerwartet 1903, als Hans Watzek stirbt und Hugo Henneberg die Fotografie aufgibt. In dieser Zeit beginnt Heinrich Kühn, seine Kontakte mit US-amerikanischen Fotografen wie Alfred Stieglitz oder Edward Steichen auszubauen und immer differenziertere Tonwerte zu entwickeln. Sein Wasserglas von 1914 wird so fast zu einem abstrakten Gemälde, auf dem die Licht- und Farbwerte den Bildgegenstand unwichtig werden lassen – Abbildungsgenauigkeit interessierte die Piktorialisten nicht. Großartig auch seine Arrangements in freier Natur, die wie Schnappschüsse wirken. Tatsächlich sind die Bewegungen der Wanderer eingefroren. Auch hier verzichtet Kühn auf Details, stattdessen reduziert er die Natur wie in „Abstieg“ auf wenige große Flächen und gezielte Ausschnitte. Seine radikale ästhetische Bildsprache blieb nicht ohne Einfluss auf die gewerbliche Portraitfotografie, was im letzten Raum in den Bildern aus Dora Kallmus´ 1907 in Wien eröffneten Atelier d´Ora sichtbar wird. Wie die Piktorialisten lehnt auch sie üppige Studiodekoration, standardisierte Posen und gleichförmige Beleuchtung ab. In ihrem Portrait von Alban Berg verschmelzen die Kleidung und der Hintergrund zu einer dunklen Fläche, nur sein Gesicht und die Hände stechen heraus.

Rudolf Koppitz, Bewegungsstudie, 1926. Albertina, Wien. Dauerleihgabe der Höheren Graphischen Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt

Der Großteil der 98 ausgestellten Werke stammt aus der Wiener Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt, wo das Archiv jahrzehntelang im Keller lagerte, bis es als Dauerleihgabe in die Albertina kam. Die Graphische ist aber nicht nur als Leihgeber, sondern auch als zentrale Ausbildungsstätte für die damalige Fotografie bedeutsamer Teil der Ausstellung. Bis Mitte der 1930er Jahre vermittelte Karel Novak hier seinen Schülern wie Rudolf Koppitz und Schülerinnen wie Trude Fleischmann noch immer Momente des piktorialistischen Einflusses. Großartig Fleischmanns Nahaufnahme der Hände des Dichters Karl Kraus! Und atemberaubend Koppitz´ Komposition in der „Bewegungsstudie“ von 1925. Da war der klassische Piktorialismus längst vorbei. Aber mithilfe der daraus entwickelten Gestaltungsprinzipien erreicht hier die Kunstfotografie einen beeindruckenden Höhepunkt: Drei eng aneinandergeschmiegte Tänzerinnen bilden den Hintergrund, vor dem sich eine vierte nackte Tänzerin grazil verbiegt. Die Mäntel der Drei sind hineingemalt, selbst ein Fuß wurde manuell hinzugefügt. Die piktorialistischen Elemente Hell-Dunkel-Kontrast und Unschärfe erweitert Koppitz genial mit Rhythmus und Bewegungsfluss. Am Ende der Ausstellung steht eine neue Bewegung, „Neues Sehen“ oder „Neue Sachlichkeit“ genannt, die auf Bildschärfe und ungewöhnliche Blickwinkel im urbanen Leben setzt. In Österreich aber hielten sich auch in dieser Schule noch letzte Erinnerungen an die frühe Kunstfotografie, wenn der Trafikant und Amateurfotograf Franz Spreng seine Nahaufnahme eines Stiegenaufgangs als malerisches Licht-Schatten-Spiel inszeniert.

veröffentlicht in: Die Presse, 7.2.2023
Albertina Modern, bsi 23.4.2023; Katalog 24,90