Sie gehören zu den berühmtesten Alten Meistern und können konträrer kaum sein: Raffael und Peter Paul Rubens. Jetzt sind sie in zwei grandiosen Ausstellungen in Wien zeitgleich zu sehen. Mit Raffael präsentiert die Albertina einen Meister der Hochrenaissance, mit dem fast einhundert Jahre später geborenen Peter Paul Rubens zeigt das Kunsthistorische Museum (KHM) einen Maler des Barock. Und beide Ausstellungen beanspruchen, einen neuen Blick auf die Werke zu bieten. Aber ist das bei derartig umfassend erforschten Künstlern überhaupt noch möglich?
Beide Meister waren schon Zeit ihres Lebens große Stars, und beide gerieten später massiv in die Kritik. Raffaels Primat der Schönheit galt lange als allzu gefällig, die idealen Körperproportionen als zu akademisch, die lieblichen Putti als kitschig. Heute sind solche Einschätzungen nebensächlich, stattdessen rückt Albertina-Kurator Achim Gnann den Schaffensprozess des Meisters in den Fokus. Raffaelo Santi (1483-1520), der mit elf Jahren Waisenkind wurde, ging schon mit elf Jahren bei Pietro Perugino in Perugia in die Lehre, studierte später in Florenz und setzte sich vor allem in Rom intensiv mit der Antike auseinander. Schon früh umwarben ihn Auftraggeber aus Kirche und Adel, zu seinen bekanntesten Werken gehört die Sixtinische Madonna, die er 1512/13 im Auftrag von Papst Julius II. schuf. In der Albertina sind jetzt 130 Zeichnungen zu sehen, dazu 18 Gemälden, die aus den bekanntesten Museen der Welt stammen und den Anspruch dieser Ausstellung manifestieren, Kunstgeschichte zu schreiben. Chronologisch gehängt, können wir hier großartig nachvollziehen, wie sich Raffael von seinen raschen Skizzen über Detailstudien, Kompositionsstudien bis hin zum „Modello“ seinen endgültigen Gemälden näherte.
Jede Zeichnung führt ein „Doppelleben“, wie Albertina-Kurator Achim Gnann betont, ist nie nur eine autonome Studie, sondern auch „ein Weg des Gedankens“. Gerade die Skizzen von Körperhaltungen zeigen dabei anschaulich, wie intensiv sich Raffael mit Skulpturen der Antike beschäftigte, deren Strenge er allerdings in die für sein Werk so typische Lieblichkeit übersetzte.
Sein gesamtes Leben hindurch beschäftigte er sich mit dem Thema der Madonna mit Kind, dem ein eigener Saal gewidmet ist. Seine Darstellung des Motivs wurde zu seiner Zeit als skandalös wahrgenommen, denn Raffael entschied sich für eine ganz eigenwillige Interpretation: den „deus ludens“, ein spielendes, göttliches Kind. Ein Gott durfte damals nicht mit Passionssymbolen spielen und erst recht nicht in den Ausschnitt der Madonna greifen. Aber Raffael gibt gerade in diesen Details dem damals neuen Renaissance-Humanismus in Italien einen starken Ausdruck, vermenschlicht die Madonna und idealisiert sie in ihrer Vollkommenheit zugleich. Darin sieht Albertina-Direktor Klaus Schröder auch die große Aktualität des Meisters, der mit seinem „Verständnis für Psychologie“ eine „Beseelung“ der Figuren schuf, so auch in dem gesenkten Blick der Muttergottes in der „Madonna mit dem Granatapfel“. Es ist diese Kombination von Idealisierung und Natürlichkeit, mit der wir heute Raffael nicht mehr als zu lieblich empfinden, sondern die Sorglosigkeit und Leichtigkeit als „hochaktuell in unserer düsteren Zeit“ (Schröder) sehen.
Auch Rubens war schon zu Lebzeiten ein gefragter Künstler, zugleich ein Gelehrter, diplomatisch tätig, Berater an Höfen – und vor allem ein Geschäftsmann. Sein Atelier war wie ein Unternehmen organisiert, Rubens hinterließ stolze 3000 Leinwände aus seiner Werkstatt, in der seine Assistenten an bis zu 20 Werken gleichzeitig arbeiteten. Ähnlich produktiv, erzählte KHM-Kurator Stefan Weppelmann, sei sonst nur Picasso gewesen. 48 Gemälde und 33 Zeichnungen zeigt das KHM jetzt in der gemeinsam mit dem Frankfurter Städel entstandenen Schau, ein Drittel davon stammt aus dem KHM, dazu mehr als 30 Vergleichswerke von der Antike bis zur Renaissance, darunter Schlüsselwerke von Tizian und Tintoretto. Anders als die große Rubens-Personale 2004 im KHM wird das Werk nicht monographisch präsentiert, sondern in Werkgruppen. Ähnlich wie bei Raffael steht auch hier die Spurensuche im Mittelpunkt.
Rubens hatte eine umfangreiche Kopiensammlung angelegt, aus denen er seine Bildideen schöpfte. In den sechs Sälen der Ausstellung kann jetzt in den spannenden Gegenüberstellungen eindrücklich nachvollzogen werden, wie Rubens Vorbilder aufgriff und veränderte, einzelne Körperhaltungen kopierte, Motive variierte. Aus immer wieder anderen Betrachtungswinkeln hielt er dafür Details fest, die er dann in seinen Bildern durch Bewegungen verlebendigte. Besonders anschaulich ist das in „Ecce Homo“. Gleich neben Rubens „Ecce Homo“ (1612) sehen wir die römische Skulptur „Der von Cupido gezähmte Kentaur“ (1.-2.Jh.n.Chr.). Man erkennt deutlich den aufbäumenden Oberkörper der antiken Skulptur in Rubens Werk wieder, aufgegriffen im Motiv des leidenden Christi. In solchen Werken sehen die Kuratoren Gerlinde Gruber, Stefan Weppelmann vom KHM, und Jochen Sander vom Städel Museum die große Aktualität des Barockmalers, dessen Werke im 19. Jahrhundert als zu vulgär galten: „Der fieseste, der vulgärste, der lauteste Maler“, formulierte es der US-amerikanische Thomas Eakens damals drastisch. Heute dagegen faszinieren die ungeheure Dynamik seiner Kompositionen und vor allem die außergewöhnlichen, malerischen Räume, die ohne kohärente Fluchtpunkte auskommen. Als wäre der Raum um die Figuren gefaltet, inspirierten Rubens Werke schon Giorgio de Chirico zu seinen surrealen Bildern. Weppelmann nennt Rubens einen „fast avantgardistischen Künstler“ und betont: „Wir wollen einen Rubens jenseits der koloristischen Schwere und fülligen Körper zeigen, einen Rubens, der sehr poetisch sein kann, sehr tiefsinnig in den Landschaften das Drama des Lebens wiedergibt.“
veröffentlicht in: NZZ, 28.11.2017
Raffael, Albertina, Wien, bis 7.1.2018
Peter Paul Rubens, Kunsthistorisches Museum, Wien, bis 21.1.2018