In Vitrinen stehen ausgestopfte Tiere, manchmal zu naturnahen Habitaten geordnet – dieses Konzept für Naturhistorische Museen gilt weltweit und ist seit Jahrzehnten bewährt. Jetzt zeigt uns das American Museum of Natural History in New York, wie Naturwissenschaft im 21. Jahrhundert vermittelt werden kann. Dafür erhielt das 1871 eröffnete Museum am Central Park einen neuen Anbau. Die Planungen dafür begannen bereits 2014, die Kosten für die 21.367 Quadratmeter des neuen „Gilder Center“ kletterten auf rund 465 Millionen Dollar hoch. Entworfen von der Architektin Jeanne Gang, können wir jetzt über einen eigenen Eingang von der Columbus Avenue aus eine gigantische fünfstöckige Höhle mit langen Fensterfronten betreten.
Ihre Architektur basiere auf „Verbindungen, Fluss, Neugier und Entdeckungen“, erklärt Jeanne Gang dazu in einem Interview. Mit den vielen Durchblicken erinnert es an Insektenbauten. Über Brücken und Öffnungen ist der Anbau mit den alten Ausstellungsräumen verbunden – und löst damit zugleich ein Problem. Denn die Gänge zu den riesigen Dinosauriern, Löwen und Elefanten, zu den Objekten der indigenen amerikanischen Bevölkerung bis zur Entstehung des Weltalls endeten bisher in insgesamt 33 Sackgassen. Bei rund fünf Millionen Besuchern pro Jahr eine tägliche Herausforderung. Jetzt sind Rundwege zwischen den zehn historischen Gebäuden möglich. Vor allem aber wird im Gilder Center ein gänzlich neues Konzept präsentiert: Das Museum stellt das Kleine in den Mittelpunkt. Wie in dem Film „Nachts im Museum“, in dem die Exponate nachts plötzlich zum Leben erwachen, bevölkern diesen neuen Anbau lebendige Tiere. Tausende winzige Blattschneideameisen wandern emsig durch dicke Glasröhren hin und her. Kinder und Erwachsene schauen dem Treiben zu, als wären es die exotischsten Lebewesen. 17 weitere Insekten-Arten leben hier auf rund 5000 Quadratmeter, darunter Gottesanbeterinnen, Käfer aus der Familie der Schwarzkäfer und sogar die Riesenhöhlenschabe, eine der größten Kakerlaken der Welt. Hier im Museum dürfen jene von New Yorkern so verhasste, allgegenwärtige Insekten eine unerwartete Faszination entfalten. Daneben steht ein riesiger Bienenstock mit mehreren Wabenlappen, die digital betreten werden können – im Spiel mit Größenverhältnissen kann die Welt neu entdeckt werden.
Publikumsliebling des Gilder Centers aber ist das Vivarium mit den lebendigen Schmetterlingen. Hier sind die Zeitfenster, die man für diese neuen Abteilungen vorab buchen muss, am schnellsten ausverkauft. Denn bis zu 1000 dieser wunderschön gemusterten Insekten aus 130 Arten fliegen frei in dem künstlichen Tropen-Dschungel herum. Dank der Projektionen eines digitalen Mikroskops ruhen sie sich manchmal sogar auf den Besuchern aus. Manche können sogar bei der Verpuppung beobachtet werden. Eine täglich aktualisierte ID-Tafel mit illustrierter Karte zeigt jede fliegende Art an – eine Herausforderung, um die anwesenden Schmetterlings- und auch Mottenarten zu identifizieren. Im nächsten Stockwerk tauchen wir in digitale Bildwelten ein. Auf zwanzig Minuten ist der Besuch hier angelegt, die Zeitfester sind genau getaktet. Vom Fußboden bis zur sieben Meter hohen, verspiegelten Decke werden uns „Unsichtbare Welten“ geboten. Die zwölfminütige Rundum-Videoprojektion aus 16 Projektoren zeigt uns die Entwicklung des Universums, begleitet von einem Soundtrack natürlicher Geräusche aus 62 Lautsprechern. Die Animation zeigt, wie alles Leben auf der Erde miteinander verbunden ist – das Leitthema des Gilder Center. Der Name bezieht sich übrigens auf einen spendablen Sponsor des Anbaus. Rund um uns wird in die menschliche DNA gezoomt, in unser Gehirn, später befinden wir uns tief unten im Meer, sehen einen Buckelwal auf seinem Weg von Mexiko nach Alaska, sehen ein Gebiet im Amazonas-Regenwald und auch den Central Park als Oase der Artenvielfalt. Schnell merken die Kinder, dass der interaktive Fußboden auf unserer Bewegungen reagiert und lenken die Fischschwärme. Bald geht es hoch hinaus Richtung Weltall, wir sehen New York von oben. Im letzten Stockwerk befinden sich 18 Klassenzimmer und eine öffentliche Bibliothek, deren Decke wie ein gigantischer Pilz geformt ist. Das neue Gebäudes sei als „Gegenmittel gegen Fehlinformation und Wissenschaftsleugnung“ konzipiert, es soll helfen, der Wissenschaft zu vertrauen, aber auch Respekt vor allen Lebewesen zu entwickeln, erklärte Direktor Sean M. Decatur.
Hier in New York ist das Naturhistorische Museum nicht mehr nur ein Ort des Staunens über Vergangenes und Exotisches. Hier wird Informationen über den Schutz unseres Planeten und seiner vielen Lebensformen vermittelt, weswegen das Leben lebendig gemacht wird.
veröffentlicht in: Die Presse, 1.8.2023