Kaum etwas ist so selbstverständlich und gedanklich doch so schwer zu fassen wie die Schönheit. Wann ist etwas schön? Im Alltag gilt, dass sich erst angesichts einer gewissen Vertrautheit Wohlgefallen einstellt. Uns gefällt, was wir bereits kennen. Umgekehrt gilt diese Gleichung allerdings nicht – und genau damit konfrontiert uns die kleine, überzeugend ausgesuchte Ausstellung „Schönheit und Vergänglichkeit“ im Essl Museum. Ob die Materialien oder Motive, mit denen die sechs Künstler uns hier konfrontieren, alles ist uns wohl bekannt – aber selten als schön befunden worden. Das beginnt gleich im Eingang mit zwei strahlend-weißen Marmorbüsten einer Frau, einmal hochschwanger, daneben mit Baby im Schoß. Das Besondere: die Frau hat keine Arme.
In der Kunstgeschichte ist diese Darstellungsform eines Körpers ohne Gliedmaßen bestens bekannt. Aber dieses ist kein Torso. Es handelt sich um eine durch Krankheit entstandene Missbildung. Der britische Künstler Marc Quinn hat eine ganze Reihe solcher Skulpturen geschaffen, in denen er drastisch unser auf Makellosigkeit aufbauendes Menschenbild in Frage stellt. Eine große Version der Schwangeren installierte er 2005 auf dem Trafalgar Square, was in London zu einer kontroversen Diskussion führte: schön oder scheußlich? Die Kunst sei ein Mittelglied „zwischen dem reinen Gedanken, der übersinnlichen Welt, und dem Unmittelbaren, der gegenwärtigen Empfindung“, schrieb Hegel Anfang des 19. Jahrhundert. Es sei das „sinnliche Scheinen der Idee“. Tatsächlich ist es anders als im Alltag in der Kunst möglich, ein Wohlgefühl angesichts sonst eher gefürchteter Situationen oder Ansichten zu empfinden. Dafür ist allerdings eine kognitive Auseinandersetzung, ein zunehmendes Verstehen nötig – und genau das fordert die Auswahl in dieser Ausstellung heraus.
Nach Quinns Marmorskulpturen folgen Werke mit Motiven und aus Materialien, die uns aus dem Alltag wohl bekannt sind, aber für alles andere als Makellosigkeit stehen: Ob Jörg Immendorffs Bilder mit Geistern, blassrosa Mäusen und Skelett, Zoran Musics „Wüstenlandschaften des Lebens“, wie er es nennt, oder Daniel Spoerris Wandobjekt mit vollem Aschenbecher, gebrauchten Kaffeetassen, Weingläsern und einem Pferdekopf-Skelett mitten auf dem Tisch – alles erzählt vom Ende des Irdischen. Auch Antoni Tapies´ Objektbilder wollen kein unbekümmertes Wohlgefühl entstehen lassen, sondern brechen unsere Erwartungen: Vernachlässigtes wie Lehm, Stroh und sogar ein Farbeimer bilden als eigentlich wenig Bildwürdiges eine malerische Wirklichkeit, die vom Prozess des Zerfallens, des Schmutz´, aber auch des Geheimnisvollen erzählt.
Immer wieder werden wir aufs Neue konfrontiert mit Dingen, denen wir eigentlich keinerlei Schönheit zusprechen würden. Besonders krass wird dieser Gegensatz in Jannis Kounellis Installation, die wie ein Altar am Kopfende der Ausstellung in den Raum hinein ragt. Kounellis ist einer der prominentesten Künstler der „Arte Povera“. In den 1960er Jahren in Italien aus einer Gegenhaltung zur US-amerikanischen Pop-Art entstanden, bevorzugten die jungen Künstler damals natürliche und bereits verwendete, vor allem aber bis dato ungewöhnliche Materialien. In dem zweiteiligen Werk im Essl Museum liegen alte Kohlesäcke auf einem riesigen Stahlregal. Sie erinnern an Kriegszeiten, an Kälte, Armut und auch an Schutzwälle. Davor hängt ein zerbrochenes Holzboot an einem raumhohen Metallmast. Hier treten die Materialien als Farben auf, sind zugleich aber voller Assoziationen, durch die Erinnerungen beschworen und kollektive Metapher neu besetzt werden.
Dieses Werk stand für den Kurator Andreas Hofer am Anfang seiner Überlegungen zu der Ausstellung. Kounellis schuf es 1999 zur Eröffnung des Essl Museums. Das Boot ist eine assoziative Verbindung zur nahe gelegenen Donau. Anders als nebenan im Strandbad können wir Kounellis´ Bootwrack allerdings als ´schön´ empfinden, denn nicht die Funktion, sondern die Proportionen und neuen Zusammenhänge bestimmen unsere Wertung. Das ist die Lektion, die uns diese Ausstellung mitteilt: Weder der schöne Schein des weißen Marmors allein noch die betrübliche Düsternis der dunklen Farben lässt eine Aussage über Schönheit zu. Die entsteht erst, wenn wir den Wunsch nach Makellosigkeit durch die Faszination am Vergänglichen ersetzt, wenn wir das Neue im Bekannten und umgekehrt entdecken. Dann erst entstehen die Geschichten, die Bilder. Weil dies nicht nur ein Privileg der bildenden Künste ist, begleitet diese Ausstellung kein Katalog, sondern ein Lesebuch mit Werken von 17 jungen Autoren und Autorinnen, darunter Alexander Peer, der fragt: „Sind dies meine Eltern? Schönheit und Vergänglichkeit?“
Schönheit und Vergänglichkeit, Essl Museum, Klosterneuburg, 5.10.2011-22.1.2012
veröffentlicht in: Die Presse, 5.10.2011