Situationistische Internationale – Strategien revisited

10. Feb. 1989 in Ausstellungen

Situationistische Internationale, S.I.
1.
Jedes Kunstwerk trägt ein Potential in sich, das den Status quo, die real existierende Gesellschaft dadurch kritisiert, daß es andere Notwendigkeiten, Bedeutungen setzen kann als diejenigen, die von der Gesellschaft als wahr anerkannt werden. Kunst, gerade weil sie dies in sich trägt, erhält in der nachindustriellen Gesellschaft die Funktion, die Totalität des Lebens als Märchen zu bewahren – Unterhaltung in der Freizeit.

Gegen diese Vereinnahmung und Entwertung der Kunst setzten die Avantgardegruppen des 20. Jahrhunderts verschiedene Theorien und Strategien. Die jeweiligen Positionen bildeten sämtliche den Versuch, die ästhetischen, politischen und moralischen Werte der Gesellschaft zu zerstören und neue zu sezten. Solche Kunstbewegungen, wie Dadaismus, Surrealismus, Konstruktivismus, werden meist als historisch zu rezipierende Sicht auf Gesellschaft betrachtet. Unter Ausschluß ihrer kritischen Schärfe sind sie zum Bestandteil des Bildungsgutes geworden, sind sie entschärft worden.

2.
Zwei Sichten auf die Avantgardegruppen des 20. Jahrhunderts: als historisches Ereignis (Universitäten) und unter dem Aspekt der Relevanz für heute. Die Werbung weiß die zweite Sicht entschieden besser zu nutzen als die im Kulturbetrieb Involvierten, indem sie die Techniken und Strategien isoliert und einsetzt (Montageprinzip, Provokation). Innerhalb des Kulturbetriebs herrscht dagegen noch der Glaube an die Kraft von Veränderungen im Sinne von Innovationen, neuen Formen. Dabei wird im Blick auf Zukünftiges über Gegenwärtiges hinweg gesehen, was ebensowenig zu einer Veränderung führen kann wie ein Absehen, Übersehen der Strategien vorangegangener Bewegungen.

Analyse (und Kritik) vorhandener Systeme, in eigener Abgrenzung und Übernahme vereinzelter Taktiken, bestimmt die ersten Ausgaben der Zeitschrift „internationale situationniste“, Publikationsorgan der Situationistischen Internationale (kurz: S.I.). Dazu zählen nicht nur Avantgardegruppen, sondern sämtliche sozialen, politischen und kulturellen Machtstrategien. Unter Einbezug aller Möglichkeiten (auch psychologischer und wissenschaftlicher Forschungen) entwickelte die Situationistische Internationale kollektive Strategien und Konditionierungstecniken – als unentbehrliche Voraussetzung jeder Handlung.

3.
Um es vorab deutlich zu sagen: Jeder muß sich bewußt sein, daß die Situationistischen Internationale der Vergangenheit angehört und als Gesamtkonzept so heute nicht fortführbar oder aufgreifbar ist. Einige der Taktiken und Strategien haben aber Bedeutung behalten, ebenso wie die formulierte Kritik, und können – wie andere Elemente der kulturellen Vergangenheit – reinvestiert werden.

Es soll keine nostalgische Sicht zelebriert werden, sondern die Bedeutung heute, 30 Jahre nach Gründung der Situationistische Internationale, betrachtet werden – unter Hinweis auf die Gefahr, daß mit der S.I. Werte wie Unmittelbarkeit, Authentizität wieder etabliert und in konservativem Sinne integriert werden, was zu einem abzulehnenden Individualismus führen würde.

4.
Die S.I. entwickelte eine prägnante, scharfsinnige und schlüssige Kritik der Gesellschaft. Hervorgegangen aus der Bewegung der Lettristen in Paris Mitte der fünfziger Jahre, gründete sich die S.I. 1957. Im Laufe des Bestehens bildeten sich 10 internationale Sektionen, denen u.a. Armando, Asger Jorn, Pinot Gallizio, Hans Platschek, Helmut Sturm (Gruppe Spur), Raoul Vaneigem und Guy Debord, der theoretische Kopf der Bewegung, angehörten. Gegen Ende weist die Mitgliederliste ein allerdings trauriges Resümee auf: Von insgesamt 70 Mitgliedern traten 19 + 2 Abspaltungen aus, und 45 wurden ausgeschlossen.

Ausschluß war die einzige Waffe der S.I., um eine Osmose zwischen der Bewegung und dem herrschenden kulturellen Milieu zu verhindern, und zwar nicht als moralische Strafe, sondern im praktischen Gebrauch. Die herrschende Kultur, wie insgesamt die Gesellschaft, wird als „Spektakel“ verstanden. Der Gründungstext von 1957 beginnt mit den Worten: „Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß.“ Da Kultur ein bedeutsamer Mittelpunkt der Gesellschaft, gerade der nachindustriellen Freizeitgesellschaft ist, bedeutet ein Umsturz der Kultur auch den Umsturz des ökonomisch-sozialen Gebildes.

5.
Mit dem Begriff „Spektakel“ ist eine Grundkritik an der Gesellschaft geleistet. „Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.“ „Das Spektakel stellt sich zugleich als die Gesellschaft selbst, als Teil der Gesellschaft und als Vereinigungsinstrument dar.“

Spektakel ist zugleich Ergebnis und Zielsetzung, ist das gegenwärtige Modell des Lebens. Die erlebte Wirklichkeit wird durch die Kontemplation des Spektakels materiell überschwemmt. Und im Spektakel ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles, denn es will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst. Der Gesellschaft des Spektakels stellt die S.I. eine Vision entgegen: Gegen das Spektakel führt die verwirklichte situationistische Kultur die totale Beteiligung ein.

6.
Die S.I. entwickelte verschiedene Taktiken zur Erweiterung und Veränderung der Gesellschaft, d.h. des Lebens. „Schaffen“ als Grunddogma der Kunst wird nicht mehr verstanden als „autonome“ Anordnung von Gegenständen und Formen, sondern als Erfindung neuer Gesetze der Anordnung. Die Bedeutung der Kunst liegt in der Intervention in die materielle Szenerie – zunächst Veränderung der Struktur einer Stadt. „Alles, was unsere Anschauung der Straße verändert, ist wichtiger als das, was unsere Anschauung der Malerei verändert.“

Die Rolle des Publikums wird durch die Konstruktion von Situationen, durch den „unitären Urbanismus“ verringert werden. Im unitären Urbanismus werden die Anwendung der Kunst und iher Techniken, verbunden mit den Ergebnissen aus wissenschaftlicher und technischer Forschung, zu einer vollständigen Umgebungskonstruktion zusammenwirken, die jeden zum Beteiligten machen und persönliche Erlebnisse (vs Pseudoerlebnisse des Spektakels) ermöglichen.

Der Architektur kommt dabei die Aufgabe zu, Fortschritt in den Dienst zur Herstellung aufregender Situationen und nicht mehr aufregender Formen zu stellen. Durch die angestrebte Verringerung leerer Augenblicke des Lebens bilden sich neue Verhaltensweisen, neue „Begierden und Leidenschaften“, die zur Veränderung von Gesellschaft führen. Der erste Schritt war es, „massenweise Begierden auf den Markt zu werfen, und sei es momentan auch nur auf den intellektuellen, deren Fülle die alte gesellschaftliche Organisation überschreiten wird.“

7.
Dadaismus, Surrealismus, Andy Warhol, die amerikanischen Künstler der letzten Jahre – sie setzten verschiedene Widerstandsaktionen gegen das herrschende Gesellschaftssystem. Die Dadaisten entwickelten eine Sprache der Negation, die Verweigerung. Die dadaistische Taktik war die Provokation, als Antwort auf „rational“ wurde „absurd“ gesetzt. Angesichts der Tatsache, daß die Gesellschaft des Spektakels „rational“ ausschließt, ist die Sprache der Dadaisten unmöglich geworden. Statt dessen setzte die S.I. die Forderung nach Interventionen.

Voraussetzung für den unitären Urbanismus sind Experimente des Umherschweifens: Umherschweifen ist keineswegs vergleichbar mit einem ziellosen Umherirren – der Ausgangspunkt wird festgesetzt, es werden Eindringungsrichtungen kalkuliert, Karten studiert und verbessert. Eiliges Umherschweifen ist gleichzeitig Handlungsweise und ein Mittel zur Kenntnis, Mittel der Psychogeographie des Erforschens der Gesetze und der genauen Wirkungen einer geographischen Umgebung. Ziel ist es, exakte Karten von der Stadt anzulegen, zu markieren, welches die Orte von Bedeutung sind. Die Karten sind später Grundlage für die Neuorgnaisation des Alltags, für die Interventionen.

Dem dient auch die Entwertung aller gebräuchlichen Unterhaltungen, solange sie nicht zweckentfremdet werden können – dies sowohl in Form einer geschickten Anwendung (Entwendung der Werbung) als auch einer auffälligen Enthaltung. Zum Experiment der Entwendung gehören u.a. das Neueinfügen eigener Texte in die Sprechblasen vorfabrizierter Comics oder das Isolieren einzelner Comicbilder.

Die dritte Strategie ist die Entwicklung einer Theorie und Praxis der  exemplarischen Handlung, d.h. zitieren, analysieren und praktische Unterstützung von Widerstandsaktionen (z.B. Algerische Revolution 1966).

8.
Der Welt der Waren stellte die S.I. die Konstruktion von Situationen entgegen. Situationen als gestaltete und organisierte Momente: Aufhebung der Reduzierung des Lebens auf einen Warencharakter durch Interventionen in den Alltag.

Aus derselben Erkenntnis heraus entschied sich Andy Wahrhol für die radikale Bejahung des Status quo. Er erklärte, daß Galerie überall sei, gründete seine „Factory“, erhob seine Kunstproduktion in den Warenstand (industrielle Massenproduktion), entthronte den Starkult auf dieselbe Warenebene („Jeder soll 15 Minuten im Leben ein Star sein“, „Die Star-Göttin und die Star-Ware sind zwei Gesichter derselben Relaität: Die Bedürfnisse des Menschen im Stadium der kapitalistischen Zivilisation des 20. Jahrhunderts“).

Fragen nach dem institutionellen Feld, nach Wert und Gebrauchswert von Kunst, nach der Bedeutung von Kunst im Alltag, beantwortete die Situationistische Internationale damit, sich dagegen zu wehren, daß die Welt der Ware als Wahrheit anerkannt wird. Sie entwickelte die Strategie des gezielten Eingriffs in die Umwelt: Ein Vorschlag war die örtliche Verlagerung der Dekorationselemente, denen man gewöhnlich an vorbereiteter Stelle begegnet, z.B. sämtliche Reiterstatuen aller Städte zusammenzubringen – eine „synthetische Kavallerieattacke“. Und gezielte Eingriffe auf sprachlicher Ebene, etwa Äußerungen anderer Autoren zu benutzen, Ideen zu verbessern, zu präzisieren und korrigiert weiterzugeben.

9.
Die Konzeptkünstler der 1960er Jahre versuchten ihre Produkte vor dem Warencharakter der Kunst zu sichern, indem sie das Objekt lediglich als Behelf für die Sinne verstanden, d.h. der immanent-ästhetischen Kunst eine gedanklich transzendierte entgegenzusetzen. Die Situationistische Internationale entzog sich der Vereinnahmungsgefahr über den Totalitätsanspruch, eine die Kunst und Politik und damit auch die Zweigleistigkeit Erkenntnis – Handlung einigende Vorstellung.

Seit Ende der 1970er Jahre entwickeln einige US-amerikanische Künstler die Strategie der „subversiven Unterwanderung“, indem sie versuchen, das Spektakel (Simulation) aufzudecken. Dieser Simulacrum-Theorie antworteten US-amerikanische Künstlerinnen (Louise Lawler, Barbara Kruger, Cindy Sherman, Sherrie Levine) mit der Feststellung, daß diese Kritik und Strategie für Frauen so lange nicht von Bedeutung ist, wie sie erst einmal grundsätzlich von der Teilnahme ausgeschlossen sind. Die Entscheidung über Teilnahme oder Verweigerung, die unterschiedlich beantwortet wurde und wird, stellt sich den Frauen erst überhaupt nicht. Galerien sind Repräsentationsorte von Kultur, wo Frauen allerdings nicht als Subjekte, sondern als Objekt der dominanten Formen künstlerischer Aktivitäten vertreten sind. Ein Vorhandensein ist nicht zu simulieren, sondern nur möglich durch Sichtbarsein. Die Interventionen und Strategien der feministischen Kunst richten sich dementsprechend zuallererst auf ein Teilnehmen und dann auf ein Benutzen des Orts „Galerie“, um über „Repräsentation“ zu reden: über Unterschiede, Voraussetzungen und verborgene Intentionen.

10.
Die Situationistische Internationale löste sich 1972 auf und wurde in der nachfolgenden Zeit in eine Ideologie verkehrt, auf die man sich berufen konnte. Wenn die S.I. heute im Nebeneinander mit anderen Bewegungen des 20. Jahrhunderts vorgestellt wird, dann nicht im Sinne jener Verkehrung oder einer Vormachtsposition. Da sich an den wesentlichen Fragen, an den wesentlichen Forderungen kaum etwas geändert hat, sind die verschiedenen Bewegungen als ein Reservoir zu betrachten. Die S.I. erhob nie ein Monopol auf Intelligenz, aber auf den Gebrauch. In diesem Sinne kommt ihr heute Bedeutung zu – in der Kritik und in den Strategien.

Mit besonderem Dank an Christoph Schäfer, der die ersten Zeilen formulierte.

veröffentlicht in: ARTIS, Februar 1989, 41. Jahrgang

Defitionen:

Konstruierte Situation: Durch die kollektive Organisation einer einhzeitlichen Umgebung und des Miteinanderspielens von Ereignissen konkret und mit voller Absicht konstruiertes Moment des Lebens

Situationistisch/Situationist: All das, was sich auf die theorie oder auf die praktische Tätigkeit von Situationen bezieht. Derjenige, dersich damit beschäftigt, Situationen zu konsruieren. Mitglied der situationistischen Internationalen.

Situationismus: Sinnloses Wort, missbräuchlich durch Ableitung des vorigen gebildet. Einen Situationismus gibt es nicht – was eine Doktrin zur Interpretation der vorahndenen Tatsachen bedeuten würde. Selbstverständlich haben sich die Anti-Situationisten den Begriff „Situationismus“ ausgedacht.

Pychogeographie: Forschung nach den genauen Wirkungen der das Gefühlsverhalten der Individuen unmittelbar beeinflussenden, geographischen Umwelt – bewußt eingerichtet oder nicht. Das, was die unmittelbare Wirkung der geographischen Umwelt auf das Gefühlsleben zur Erscheinung bringt.

Psychogeograph: Jemand, der nach psychogeographischen Wirklichkeiten forscht und diese übermittelt

Umherschweifen: Mit den Bedingungen der städtischen Gesellschaft verbundene experimentelle Verhaltensweise oder Technik des beschleunigten Durchgangs durch verschiedenartige Umgebungen. In besonderen Sinne auch die Dauer einer ununterbrochenen Ausübung dieses Experiments.