Van Goghs „Starry Night“ entstand in Arles und war bisher noch nie zuvor dort zu sehen – was die grandiose Ausstellung „Van Gogh und die Sterne“ jetzt geändert hat.
Eigentlich wollte Vincent Van Gogh 1888 mit dem Zug nach Marseille fahren. Aber er stieg in Arles aus – und blieb dort 15 Monate. In der Zeit entstanden 200 Gemälde und 100 Zeichnungen. Bis heute besitzt die kleine Stadt in der südfranzösischen Provence kein einziges dieser Werke. 2012 dann startete der Schweizer Unternehmer Luc Hoffmann aus der Roche-Gründerfamilie die Foundation Van Gogh. Untergebracht in einem renovierten Haus aus dem 15. Jahrhundert, ergänzt mit einem Glaskubus als Eingang, waren hier in den Jahren seit der Eröffnung 2014 rund 130 Werke des französischen Meisters als Leihgaben zu sehen. Nicht gleichzeitig, sondern in sorgsam gewählten Themenausstellungen.
Denn die Foundation stellt sich die Aufgaben, Van Gogh „in die Gegenwart zu holen“, wie die künstlerische Direktorin Bice Curiger ihren Auftrag hier beschreibt. Als sie 2013 berufen wurde, war Curiger noch Chefredakteurin des 1984 gegründeten, legendären Kunstmagazins Parkett, das 2017 eingestellt wurde. Seither konzentriert sie sich auf Van Gogh.
Arles als kleines Kunst-Mekka
Ihre Aufgabe, den berühmten Maler in der Provinz gegenwärtig zu halten, ist alles andere als leicht. Die Stadt lebt vom Tourismus, auf gut 50.000 Einwohner kommen jährlich rund 1 Millionen Gäste. Dank der Foundation, dem privat betriebenen „Lee Ufan Arles“-Haus und dem großen Kunstzentrum Luma entwickelt sich Arles zwar langsam zu einem kleinen Mekka der Kunst. Aber wie kann Van Gogh bei solch heterogenem Publikum aktualisiert werden? Curigers Antwort: Sie sucht neue Kontextualisierungen seines Werk in umfassenden Gruppenausstellung. Gerade eröffnete „Van Gogh und die Sterne“. 150 Werke von 76 Künstlern finden hier zusammen. Alles kreist dabei um ein einziges Meisterwerk: Van Goghs „Sternennacht über der Rhone“. Das nur 72,5 x 92 Zentimeter kleine Bild entstand im September 1888 in Arles. Man sieht die Spiegelung der Lichter an der Promenade in der Rhone. Ein Bauern-Paar steht vorne auf dem Land, das sich im Pinselstrich kaum von den Wellen des Flusses unterscheidet. Darüber sehen wir einen aufgewühlten Himmel mit merkwürdig kalten, leuchtenden Sternen. In einem Brief an seinen Bruder nannte Van Gogh die Sterne einmal „einen Zufluchtsort für die Toten“.
Dies Meisterwerk gehört dem Musée d´Orsay. Solche Meisterwerke heute auszuleihen ist selbst für renommierte Museen immer schwieriger. Auf Curigers Ausleih-Wunsch hin erhielt sie von der damaligen Direktorin die Aufforderung, „ein ausgefeiltes, wissenschaftliches Konzept einzureichen“, wie Curiger im Gespräch erzählt. Aber was ist damit gemeint, heute, noch dazu für eine Institution in der Provinz, fragte sie sich. Etwa das Thema, ob Van Gogh dem Impressionismus oder schon dem Post-Impressionismus zuzuordnen sei? Das seien Fragestellungen, die nicht mehr zeitgemäß seien, entschied sie.
„Ich arbeite assoziativ“
Stattdessen besann sie sich auf ihren kuratorischen Stil: „Ich arbeite assoziativ, essayistisch“, fasst sie es im Gespräch zusammen. Sie zeige Ausstellungen, „die poetisch sein können“, in die auch gesellschaftliche bis technologische Aspekte einfließen. Ihr so gemeinsam mit Kurator Jean de Loisy entwickeltes Konzept war dann erfolgreich. Jetzt ist der „Sternenhimmel“ endlich in Arles zu sehen!
Curiger spricht von der Ausstellung als einer „Galaxie“ und als „eine Reise durch den Kosmos“. Die Auswahl folgt zwei zentralen Aspekten: ein Nachspüren des „intellektuellen Spirits damals“, wie sie es nennt. Und die Faszination von Künstlern an einer neuen, durch die Astronomie geprägten optischen Kultur. Eine ihrer – vielen – Ausgangsfragen sei die Überlegung gewesen, wann Arles überhaupt mit der nächtlichen Straßenbeleuchtung ausgestattet wurde. Das führte sie zu der seit Jahrzehnten nicht mehr gezeigten Fotografie-Serie von Charles Marville, der die Gaslaternen in Paris im 19. Jahrhundert dokumentierte.
Neuinterpretation von Van Goghs „Gelben Haus“
Mit dem Wissen um diese technische Innovation interpretiert Curiger in Van Goghs – nicht ausgestellten – in Arles entstandenen „Gelben Haus“ (1888) den langen Streifen vor dem Haus als Grabungen für die Gasleitungen. Vielleicht hängt Van Goghs Faszination der Lichtspiegelungen in der Rhone auch damit zusammen.
Der Hauptfokus der Werke liegt auf den unglaublich facettenreichen Beschäftigungen von Künstlern mit dem großen Thema der Sterne. Wir sehen gemalte Sternreflektionen, Planeten, den Orion Nebel, Mond und Sonne oder auch die Milchstraße wie im Augusto Giacometti rundem Bild von 1917. In Federic A. Cazals kleinem Bild zündet sich ein Mann seine Zigarette an den Sternen an und Maler wie Kandinsky, Malewitsch oder Iwan Klioune reduzieren das Thema auf abstrakte Formen bis zur reinen Farbe Blau. Wie grob dazwischen das Mobile „Superheavy Skies“ (2022) mit den schweren Steinen von Alicja Kwade erscheint! Großen Einfluss übten Mitte 19. Jahrhunderts die Zeichnungen der Spiral-Galaxien von Lord Ross auf Künstler aus – Curiger sieht hier eine lange Tradition bis zu Anselm Kiefers monumentalen, fast zwei Meter hohem Blei-Buch „The Secret Life of Plants“ (2001). Die Nacht, die Sterne, das lernt man in dieser umfangreichen Ausstellung, entpuppen sich als ein kaum endendes Inspirations und Bild-Reservoir.
Aber liegt darin wirklich die Aktualität von Van Gogh? So direkt will sie das Konzept nicht gelesen sehen. Aber in einem ist sich Curiger sicher: Van Gogh gehöre eigentlich in die Kategorie „Pre-Pop Art“, was „ein Grund für seine anhaltende Popularität“ sei. Aber das wäre eine andere Ausstellung.
veröffentlicht in gekürzter Form in: NZZ, 15.7.2024
Fondation Vincent Van Gogh Arles, Van Gogh und die Sterne, 1. Juni – 8. September 2024