Vija Celmins im Interview 1997

20. Apr. 2015 in Interview

Vija Celmins House #1, 1965; Öl auf Holz, Metall, Plastik, Haus

Ein Jahr vor ihrem 60. Geburtstag zeigt das Kunstmuseum Winterthur im Sommer 1997 erstmals eine große Retrospektive mit Werken von 1964-1996 der in New York lebenden Malerin Vija Celmins. Sabine B. Vogel besuchte die Künstlerin vorab in ihrem Atelier.

SBV: Sie sind mit Ihrer Familie im Kriegsjahr 1944 von Lettland nach Deutschland gekommen. Hitler war noch an der Macht, die Städte zerstört – warum Deutschland?

Vija Celmins // SBV 1997

Vija Celmins: Damals drängte die russische Front die deutschen Soldaten über Lettland zurück, und wir flohen – vor den Russen und vor der Zerstörung. Das Schiff fuhr nach Norddeutschland, Tausende von Flüchtlingen waren unterwegs, wir versuchten über Berlin langsam nach Süden in die amerikanische Zone zu gelangen …

SBV: … mit dem Ziel, nach Amerika auszureisen?
Vija Celmins: Nachdem die Ost-West-Trennung klar war, und wir wussten, dass sich die Russen nicht mehr zurückziehen würden, gab es keinen Grund, nach Riga zurückzukehren. Es bot sich die Möglichkeit nach Australien, Kanada, Süd- oder Nordamerika auszuwandern, und wir beantragten die United States und erreichten die USA 1949.

SBV: Sie flohen im Alter von sechs Jahren. In den 1960 und 70er Jahren malten Sie dann Bilder von Kriegsflugzeugen, aber auch Autounfälle, die Pistolen-Bilder und schufen die brennenden Häuser-Objekte – war das eine Verarbeitung Ihrer Kindheitserfahrungen?
Vija Celmins: Sicherlich nicht explizit. Anfangs habe ich wie alle anderen versucht, abstrakte Bilder zu malen. Der Abstrakte Expressionismus war für uns ein starker Antrieb. Pollock, De Kooning – dieser Einfluss ist durch die Pop Art dann gebrochen worden. Also begann ich, mit gefundenen Objekten zu arbeiten. Objekte, die im Atelier standen, die Heizung zum Bespiel, oder Dinge aus der Schulzeit, ein Radiergummi, Bleistift. Ich malte, was ich sah.

Burning Man, 1966

 

Pistol, 1994

 

Erasure, bemaltes Holz, 1976

Zur gleichen Zeit begann ich, all diese kleinen Bilder, die ich aus Zeitungen und Büchern ausriss, zu sammeln und zu malen. Jetzt scheint es mir, als ob ich sehr emotionale Dinge wählte und versuchte, sie zu beruhigen, sie in die Stille, die ein wichtiger Teil von Bildern ist, einzupassen. Ich versuchte, die malerischen Gesten in den Bildern zu bändigen, auszuschalten, denn es waren eigentlich nicht meine Gesten, sondern diejenigen von De Kooning.

Heizung, 1964

 

Flying Fortress, 1966

SBV: Warum waren die Bilder damals grau?
Vija Celmins: Das hat mehrere Gründe. Erstens waren die Illustrationen schwarz-weiß Fotos, und zweitens erhalten die Bilder dadurch einen emotionalen Ton, der nicht aufgepeppt ist.

SBV: Es gibt eine Nähe einiger dieser frühen Arbeiten zu Gerhard Richters Bildern – kannten Sie seine Arbeiten damals?

Vija Celmins: Nein. Außerdem leiht sich Richter eine Art des Blicks, während ich mich mit der Frage plage, wie das Bild zusammenkommen kann. Richters Art des fotografischen Blicks findet sich bei mir nur in wenigen Bildern, etwa in dem Auto-Bild, vom Blick des Fahrers aus. Aber ich wollte mich von Kompositionen dieser Art befreien, deswegen sind es entweder einzelne oder einzigartige Images wie die Wüsten- und Ozean-Bilder. Damals war ich an Licht, an Dingen interessiert, die sich bewegen, nicht an kunsthistorischen Themen wie Interieurs oder Räume – an grenzenlosen Dingen. Ich wollte unmögliche Themen in Malerei, in eine andere Welt übersetzen. Ich lebe in einer Welt der kleinen Oberflächen, ich bin kein Astronom. Es ist eine Welt in der Fläche, dicht und ohne Melancholie. Ich will keine Gefühle parodieren oder manipulieren.
SBV: Es ist beeindruckend, dass die Gegenstände in Ihren Bildern wie die Helden einer Story auftreten, aber es gibt keine Geschichte, keine narrative Struktur.

Waves, 1970

 

Vija Celmins: Eine der großen Neuerungen dieses Jahrhunderts sind die Collagen, die viel besser Geschichten erzählen können als ein Bild. Bilder haben ganz andere Möglichkeiten, zu berühren, eine Dichte zu erzeugen. Sie haben eine eigene Zeit. Die einzige Geschichte in meinen Bildern ist mein Interesse für Malerei und für den malerischen Raum.
SBV: Sie haben in den 1960er Jahren begonnen, ausschließlich mit Bleistift zu arbeiten. Warum hörten Sie damals plötzlich mit der Malerei auf?

Untitled Galaxy, Radierung 1986

VC: Ich suchte eine Klarheit, etwas Grundsätzliches … nur die Linie eines Bleistifts auf dem Papier, eine Linie neben der anderen, ein Bild, das all die Linien zusammenbringt. Ich war mehr und mehr fasziniert vom Bleistift, ich machte diese sehr dichten Zeichnungen von Galaxien mit Graphit, wobei auf dem Papier die Lichtpunkte freigelassen waren. Da war dann wieder der Weg für Malerei offen. Ich konnte diese Zeichnungen nicht weitertreiben. Es war, als hätte ich in jenen Jahren vergessen, dass ein Bild mehr in sich tragen kann als eine Zeichnung. Warum warum – es ist ein Weg, ein Leben auf einer zweidimensionalen Fläche zu leben. Ich wollte Dinge klein, konzentriert und vor allen nicht grandios machen.
SBV: Die Bilder, die Wüste oder Sternenhimmel auf einer großen, sozusagen freigelassenen Fläche erscheinen mir wie eine Umsetzung des Weges zurück in die Malerei.
Vija Celmins: Ja … das sieht aus wie eine Illustration, die aus einer Seite herausgefallen und auf dem Boden gelandet ist. Ich habe viel mit dem Raum der Leinwand gearbeitet, auch mit Kompositionen, aber in Beziehung zur Oberfläche. Nach den frühen Malereien arbeite ich jetzt nach der Unterbrechung wieder in diese Richtung, auch ein bisschen größere Bilder, denn ich bin die kleinen Arbeiten, die Konzentration der Images müde.
Ich möchte keine Bilder mit einer wiedererkennbaren, personalisierten Gestik malen. Mein Anliegen war, mit einem Minimum ein Bild zu schaffen, das eine Resonanz zu anderem und gleichzeitig ein eigenes Leben hat.

Irregular Desert, 1973SBV: Das klingt wie eine Beschreibung Ihrer Motive: Wüste, Ozean, Sternenhimmel …

 

Vija Celmins: All meine Wüsten- und Ozeanbilder sind eigentlich Fragmente. Fragmentierte Bilder, die man auf einer Oberfläche formt, die einzigartig ist. Ich hoffe, dass sie tatsächlich auf der Ebene des Gemäldes existieren, in der Realität der Zweidimensionalität, und dass das Sujet, die wirkliche Wüste, der wirkliche Ozean, angesichts der Bilder zum Geist wird. Ich mag den Aspekt der Zweidimensionalität, denn er konkurriert nicht mit der dreidimensionalen Wirklichkeit.
SBV: Die Themen dieser Bilder scheinen etwas zu umfassen, das zu groß ist, um es zu beschreiben …
Vija Celmins: … zu groß, um es zu beschreiben, aber beschrieben in Grenzen und abgestimmt auf diese Grenzen in einer Art, die nur da vorhanden ist und nicht viel weiter gehen will. Natürlich weiß man, dass es viel weiter reicht, vor allem in Fotografien ist man sich der Ausschnitthaftigkeit bewusst. Ein Bild aber ist eine kleine messbare Oberfläche mit einer physischen Erfahrungsebene. Graphit oder Farbe haben eine andere Sensibilität als eine Fotografie. Bilder sind nicht so schnell wie Fotografien, sie sind viel konzentrierter und man kann die Herstellung fast nachleben.
SBV: Sind Ihre Bilder nach Fotografien gemalt?
Vija Celmins: Oh ja, das ist eines der Themen. Anfangs malte ich vorgefundene Dinge aus meinem Leben, dann die gefundenen Bilder, die Zeitschriftenausschnitte, dann Fotografien. Das Thema ist nicht die Wüste, sondern die Fotografie. Ich gucke gerne durch Kameras und Teleskope, ich beobachte Vögel. Das Foto ist wie ein Skelettbild ohne Manipulation. Das Foto abzumalen ist das erste Thema, das zweite ist dessen Sujet. Ich wollte das Foto und das Bild vom Foto zusammenbringen, um zu einem komplexeren Bild zu kommen. Ich rede über die Doppelbilder. Und das gilt auch für die Bilder, die ein Sujet und eine rein malerische Oberfläche kombinieren, wie beispielsweise die Sternenbilder.
SBV: Gehört das Wüstenbild auf Holz auch dazu?
Vija Celmins: Das ist eigentlich eher ein Relief, so als käme die Illusion aus dem Bild … aber es war mir dann zu ausgedacht. Ich wollte die Bilder flacher machen, um eine Spannung zur suggerierten Tiefe zu erzeugen … fast abstrakt, weil du nicht weißt, ob das, was du siehst, total flach ist und dich völlig außen vor lässt, oder ob du vielleicht hineingehen kannst. Der Betrachter muss die Arbeit tun.

veröffentlicht in: Kunstbulletin No. 5, Mai 1997