Als ich Wien Ende der 1980er Jahre das erste Mal besuchte, war ich erstaunt. Sollte diese Stadt nicht erstrahlen dank all der prächtigen Barock-Architektur und Adolf Loos´ ikonischer Bauten der Moderne? Stattdessen war alles so düster! Nicht nur schienen sich die Fassaden im einheitlichen Grau-Schwarz in die engen Straßen zu ducken. Auch die Schaufenster in der Inneren Stadt erinnerten eher an die Nachkriegszeit der 1920er als an die laute, bunte Konsumlust, die ich aus Düsseldorf kannte. Ich bereitete damals die Junge Szene-Sommerausstellung („Opppositionen & Schwesternfelder“) in der Wiener Secession vor, zu der ich auch in Wiener Galerien recherchierte. Viele kannte ich von der Art Basel, Ursula Krinzinger, Grita Insam und Nächst St. Stephan waren schon damals weit über Österreich hinaus wichtig für die Gegenwartskunst. Ihre Räume allerdings entführten mich in eine andere Welt: Über enge Treppenhäuser, historisch beeindruckende Lifte und dunkle Gänge erreichte man sie irgendwo in den oberen Etagen von Mietshäusern. Diese merkwürdige Stimmung setzte sich sogar im Museum für Moderne Kunst fort, das damals in den zwar herrschaftlichen, aber beklemmenden Räumen des historischen Palais Liechtenstein gastierte. Joseph Beuys hatte seine Ausstellung dort „Nasse Wäsche“ betitelt, vielleicht in Anspielung auf den Muff auf Dachböden. Und wo war eigentlich die Jugend?
Dreißig Jahre später zeigt sich Wien komplett ausgetauscht. Die düstere Stimmung ist verflogen. Die Stadt glänzt mit ihren – renovierten – Barock-Schätzen. Anders als in Deutschland wurde in Wien nichts abgerissen, radikale Schnitte liegen den Österreichern nicht so. Stattdessen wird Historisches mit dem Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts verbunden – und das ist ein geniales Rezept, im Tourismus, im Kunsthandel, im Alltag. Ein beliebter Treffpunkt der Jugend ist der kleine Park, den sie „Zwidemu“ nennen: Zwischen den Museen. Zwischen den klassizistischen Prachtbauten des Naturhistorischen und des Kunsthistorischen Museums sitzen sie, rauchen, trinken, tanzen, es ist ihre Partyzone. Im 1744 errichteten Palais von Erzherzog Albert zeigt die Albertina historische Druckgraphiken neben zeitgenössischer Malerei. Nebenher kauft Direktor Klaus Schröder laufend Mobiliar zurück, um einen Eindruck der ehemaligen herrschaftlichen Räume zu vermitteln. Das heute kurz MUMOK genannte Museum der Moderne hat einen Neubau auf dem Gelände der früheren Hofstallungen erhalten, die jetzt Museumsquartier heißen – ein Areal, das auf 90.000 Quadratmeter 60 Kulturinstitutionen vom Kindermuseum bis zum Tanzquartier zusammenbringt. Die überdachten Passagen zwischen den Innenhöfen fungieren als Open Air-Ausstellungen, die Höfe sind rund ums Jahr Treffpunkt mit Musikkonzerten bis Punsch-Ständen.
Und die Galerien? Die sind nicht mehr kreuz und quer als Solisten über die Stadt verteilt, sondern ballen sich selbstbewusst in drei Zentren mit Gassenlokalen. Eigentlich eher zwei Zentren, die Schleifmühlgasse beim Naschmarkt und die Eschenbachgasse beim Museumsquartier. Das dritte Zentrum in der Inneren Stadt ist noch ein wenig wie damals, auch wenn hier schon mit Emanuel Layr und Sophie Tappeiner jüngere Galerien mit ebenerdigen Räumen dazugekommen sind. Bei Krinzinger und Nächst St. Stephan dagegen muss man noch immer an einer Wohnungstür klingeln. Aber das passt. Denn die Schwellenangst vor Galerien ist durch die drei Kunstmessen, die jedes Jahr in der Donaumetropole stattfinden, längst überwunden. Der Kunstkauf floriert. Als in Prä-Corona-Zeiten noch die für Wien so typischen, wunderbar stilvollen Dinnerparties der Galerien stattfanden, traf man dort Connaisieure, Kunstkritikerinnen und Museumsleitungen aus aller Welt. Manchmal mischten sich auch Studierende der beiden Wiener Kunstunis dazwischen. Aber eigentlich tummeln die sich in ihren eigenen Räumen, einem spannenden, über die ganze Stadt verteilten Netzwerk von off-Spaces. Manche davon sind ganz roh wie die privat finanzierte „Die Schöne“ in der Nähe der Ottakringer Traditions-Brauerei, manche weitgehend subventioniert wie „Das Weiße Haus“ in den Kellerräumen eines Gymnasiums.
Jetzt trifft sich erst einmal niemand mehr. Zur Corona-Ausgangssperre ab 20:00 kommt noch die Trauer. Unter den Toten der Terrorattacke befindet sich eine Studentin der Uni für Angewandte Kunst, ein weiterer ist nach einer Operation außer Lebensgefahr. Die Uni bietet den Klassen psychologische Unterstützung an – das könnte gerade die ganze Stadt gebrauchen. Wir sind verletzt. Wie gerne würde ich jetzt in das Kunsthistorische Museum gehen und mir die Gewalt in den Bildern der Alten Meister anschauen, um nicht an den sinnlosen Fanatismus dieses IS-Spinners zu denken. Aber die Museen bleiben bis Ende des Monats geschlossen. Die Galerien dagegen öffnen wieder. Bei Hubert Winter zeigt die 1942 in Syrien geborene Simone Fattal ihre minimalistischen Bilder und assoziationsmächtigen Collagen aus einem „Land des Nirgendwo“. Bei Meyer Kainer eröffnete gerade Heimo Zobernig mit seinen farbgewaltigen, optimistischen Bilder. Wien ist aus seinem Dornröschenschlaf erwacht, und auch wenn gerade niemand mehr feiern mag, wird die Stadt, die Kultur, die Kunst in Wien ihre Attraktivität und ihre Weltoffenheit nicht verlieren.
veröffentlicht in: WELT, 7.11.2020