„Das in Afrika eingeborene Element ist der Neger.“ Dieser Satz stammt aus einem Aufsatz im „Archiv für Rassenbilder“ von 1926. Es demonstriert in erschreckender Weise die damals vorherrschende Gesinnung: Indigene galten nicht als gleichwertige Menschen. Sie waren Studienobjekte, mit denen man zu den Ursprüngen der Menschheitsgeschichte finden wollte. Diese Überzeugung teilten damals nahezu sämtliche Völkerkundler, wie Anthropologen früher hießen. Anders Felix von Luschan. Der 1854 in Österreich geborene Arzt und Anthropologe beharrte auf einer hierarchiefreien Sicht, was jetzt in einer beeindruckenden Ausstellung im Wiener Photoinstitut Bonartes veranschaulicht wird. Luschan kam schon früh zur Anthropologie, publizierte bereits nach seiner Matura 1871 erste Studien zum Schädelaufbau. Als Militäroberarzt führte er 1879 Grabungen und Körpermessungen im besetzten Bosnien durch, nahm 1881 an Archäologie-Reisen nach Ägypten teil, habilitierte sich 1882 in Wien in der Anthropologie und war 1904-1910 Direktor der Afrika- und Ozeanien-Abteilungen am Ethnologischen Museum in Berlin. Bei seinen Forschungen bediente sich Luschan schon früh der Fotografie, um anhand von Typenbildern „Rassenmerkmale“ erfassbar zu machen – immer nach der strengen Regel: Profilbild von vorne und von der Seite, um die Vergleichbarkeit zu garantieren. Nach seinem Tod 1924 in Berlin übergab seine Frau Emma einen Teil des gemeinsamen Nachlasses der Universität Wien. Die 130 Schachteln mit über 4000 Fotografien schlummerten dann jahrzehntelang im Archiv der Uni, bis Katarina Matiasek 2017 mit der von Bonartes finanzierten Aufarbeitung begann. „Überleben im Bild“ betitelt sie ihre Ausstellung der bisherigen Ergebnisse. Denn Matiasek schafft es, dank umfangreicher Recherchen einige der Fotografierten aus der Anonymität herauszuholen.
Da ist der neunjährige Knabe Soli, der aus dem deutschen „Schutzgebiet“ Neuguinea zu „Erziehungszwecken“ nach Berlin gebracht wurde. Seine Gesichtsabformung und Typenfotografien lassen vermuten, dass Soli Luschan an der Universität als ´lebendes Modell´ galt – allerdings nur kurz. Er vertrug das Klima in Deutschland nicht, kam zurück nach Ozeanien und arbeitete dort in einer christlichen Mission. Über deren Archiv konnte Matiasek Solis Nachfahren finden und ihnen die ursprünglich anthropologischen Studienfotos jetzt als individuelle Portraits zurückgeben.Ähnlich erfolgreich verlief auch Matiaseks Suche nach den Nachfahren von Sultana Codron. Luschan hatte das sephardische Ehepaar in Makri in der heutigen Türkei kennengelernt. Über ihre Typenportraits charakterisierte Luschan dann die jüdische Bevölkerung als „allgemeine orientalische Typen“. Erweitert werden die Portraits mit Familienbildern von Sultanas Nachfahren, die heute in Los Angeles leben und durch eine von Holocaust und Diaspora geprägte Geschichte kaum Kenntnisse über ihre Vorfahren hatten. Wenig Informationen dagegen konnte Matiasek zu Yagond finden, der mit seinen Brüdern nach Berlin kam und vom Ehepaar Luschan in seiner traditionellen Kleidung dokumentiert wurde. Ursprünglich vom Stamm der Maasai, die aus Moshi im heutigen Tansania stammen, war er auf der Ersten Deutschen Kolonialausstellung 1896 in Berlin-Treptow in scheinbar authentischen Kulissenbauten als „Wilder“ ausgestellt worden. Anschließend verliert sich seine Spur, sein Profilbild gehörte aber noch lange zu den anthropologischen Lehrtafeln in Europas Schulen. Jetzt trägt sein Portrait erstmals seinen Namen. Einer durch Zufall in ein ostafrikanisches Feldlager gelieferten Kamera verdankt sich das Portrait des jungen Herrschers Kissilerobo, die später zur Ikone der sogenannten „Hamitenthese“ wurde: Aufgrund seines markanten Profils mit der auffälligen Nase hielt man die hellhäutigeren „Hamiten“ für die „Kulturbringer“ eines vermeintlich geschichtslosen Afrikas. Luschan verglich Kissilerobos Portrait mit Mumienbildnissen und vermutete seinen Ursprung in Ägypten.
Aber Emma und Felix Luschan fotografierten nicht nur das Fremde, auch zeitgenössische Intellektuelle und das Ehepaar selbst sind Objekt ihrer anthropologischen Erfassungen. Humorvoll ist Luschans Selbstportrait im Bronzezeitkostüm, kurios die in einem schmalen Glas aufbewahrte, lange Haarlocke seiner Frau, gewaltig ihre Sammlung von Schädeln, von denen allein 5000 Objekte an das New Yorker National Museum of History verkauft wurden. Zwar konnte und kann anhand all dieser Sammlungen, Vermessungen, Erfassungen und Dokumentationen nicht die damals intendierte Entwicklungsgeschichte der Menschheit rekonstruiert werden. Aber es sind beeindruckende Dokumente der von Kolonialismus geprägten Zeit, die jetzt zu neuen Erkenntnissen führen – zu denen es ab September übrigens auch online verfügbare Vorträge geben wird.
Überleben im Bild, Photoinstitut Bonartes, Wien, 29. Juli-29. Oktober 2021
Veröffentlicht in: die Presse, 5.8.2021