William Kentridge in der Albertina, Wien

20. Nov. 2010 in Ausstellungen

William Kentrdige, 2012 in Melbourne. Foto Peter Campbell, wikipedia

Vor acht Jahren war William Kentridge für viele die große Entdeckung der documenta 11 in Kassel. Damals hatte William Kentridge zwar bereits wichtige Ausstellung. Aber dem europäischen Publikum war er vor allem als Theaterregisseur bekannt. Heute gehört der 1955 in Johannesburg geborene und dort lebende (weiße) Künstler zu den Stars des internationalen Kunstbetriebs, dessen große Zeichnungen mittlerweile sechsstellige Dollarbeträge kosten. Dieses Jahr ist jetzt erstmals eine umfassende Retrospektive zu sehen, die im Frühjahr im MOMA in New York begann und jetzt in der Albertina stationiert, bevor die Ausstellung weiter geht ins Israel Museum, Jerusalem, und Stedelijk Museum, Amsterdam. Mehr als 60   Animationsfilme und auch aus der Haussammlung stammenden Zeichnungen und erstmals zwei Tapisserien sind in Wien zu sehen. Dafür wurden die siebzehn hinter einander liegenden Galerie-Räume großzügig mit neuen Spotlichtern und schallschluckenden Trennwänden aufgerüstet, die Blickachsen zwischen Filmen und Zeichnungen zulassen.
Fünf Themen“ nennt Kentridge seine Ausstellung, die in Wien mit „Künstler im Atelier“ beginnt und die siebenteilige Filminstallation „7 Fragments für Georges Méliès“ (2003) zeigt. Méliès war Filmregisseur und wendete erstmalig die Stop-Motion-Technik an. Dabei entsteht ein Film mit unbewegten Objekten, Bild für Bild. Genau dieses Verfahren ist Kentridges zentrale Methode. Für seine Filme zeichnet er mit Bleistift oder Kohle, radiert Details weg, fügt anderes hinzu und radiert wieder. Nur wenige, manchmal nur zwanzig schwarz-weiße Zeichnungen entstehen pro Film. Der Prozess bleibt immer sichtbar – und das ist mehr als nur eine technische Entscheidung. Denn das Verwischen, Nachzeichnen und Ausradieren ist ein zentrales inhaltliches Element. So klettert er gleich im ersten Raum im Film „Balanceakt“ die Leiter hoch, vorbei an klassischen Bildern, Landschaften, Blumen, einem Selbstportrait, immer höher, bis er aus dem Blickfeld verschwindet. Der Raum löst sich auf, die Leiter, die Bilder werden ausradiert. Plötzlich purzelt er wieder herunter, um ihn herum nur noch einzelne Striche und Spuren, ein reiner Bildraum, ein Platz für Neues.
Was hier wie ein Übergang von der Malerei in die Möglichkeiten der Zeichnungen bzw. des Animationsfilm gelesen werden kann, erhält in den folgenden Filmen eine deutlich politische Dimension. In „Schattenprozession“ greift er Alfred Jarrys „König Ubu“ auf, verwandelt Pa Ubus Körper in ein Stativ, ein Radio, eine Katze, eine Kamera. Reduziert, abrupt und ohne Worte zeigt er die ganze Absurdität der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika. Obwohl Täter und Opfer hintereinander erscheinen, will Kentridge aber nicht mit einer eindeutigen Stellungsnahme versöhnen, sondern zur erneuten Beschäftigung auffordern. Ähnlich direkt thematisiert er auch mit der despotischen und zerstörerischen Industriellen-Figur Soho Eckstein und dessen sensiblen Alter Ego Felix Teitlebaum die Ungerechtigkeiten der Apartheid. In solchen Filmen wird das Ausradieren zum zentralen Bedeutungsträger.
Immer wieder beschäftigt sich Kentridge mit Unterdrückung und Machtmissbrauch, in seiner Neubearbeitung von Mozarts „Zauberflöte“ mit den dunklen Seiten der Aufklärung und in seinem neuesten Werk „Die Nase“ mit dem Scheitern der Russischen Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts. Als Regisseur führte er die Oper „Die Nase“, basierend auf Nikolai Gogols Erzählung von 1836, heuer im Frühjahr an der Metropolitan Opera in New York auf. Als eigenständige Acht-Kanal-Projektion ist es das Kernstück seiner tourenden Ausstellung. Die Geschichte handelt von einer Nase, die ihren Träger verlässt, durch die Strassen wandert und ein eigenes Leben führen will. Kentridge überlagert die Erzählung in einer „nüchternen Absurdität“, wie er es nennt, mit Bildern der Russischen Moderne, mit dem Scheitern des Russischen Konstruktivismus und dem beginnenden Staatsterror des Kommunismus. Originalfilm-Material jener Zeit, tanzende Buchstaben und Collagen mischen sich mit Schattenspielen und der wandernden Nase. Immer wieder stolziert Malewitchs rotes Quadrat über die Leinwand, in unübersehbarer Anlehnung an Lissitzky´s Bild „Schlagt die Weißen mit dem Roten Keil“ zerbrechen das Weiß und der rote Keil gleich dazu. Besonders eindrücklich ist die Reihe von Schattengestalten, die schwere Lasten auf dem Rücken tragen, Fahnen, darunter auch Tatlins berühmtes „Monument der Dritten Internationale“ – der Glaube an den großen Umbruch, an die besseren Zeiten, ist zur Bürde geworden. Dazwischen klettert eine Gestalt immer wieder eine Leiter hinauf, um am Ende hinunter zu stürzen. Hier jetzt schaut keiner mehr mit erstaunten Augen in einen Bildraum voller Möglichkeiten, sondern muss immer auf ein Neues ins Ungewisse fallen – in eine chaotische Welt, die Kentridge in seiner beeindruckend komplexen Ausstellung nicht als Fehler, sondern als Norm zeigt.

veröffentlicht in: Die Presse, 29.10.2010