Kunst im öffentlichen Raum – wo, wie, warum?

06. Dez. 1991 in Ausstellungen

In Hannover heißt es „Im Lärm der Stadt„, die arriviertere Version „Außenraum Innenstadt“, in Wien „Topographie„, in Frankfurt ist es namenlos, dafür aber schon mehr als ein halbes Jahr über die ursprünglich geplante Präsentationszeit hinausgezogen – Kunst im öffentlichen Raum boomt. Der Frankfurter Kunstverein läßt die alljährliche Präsentation Frankfurter Künstler vor den Türen des Hauses stattfinden und in Stuttgart werden die ersten Vorbereitungen für das ehrgeizige Außenraumprojekt „Internationale Skulpturenausstellung“ getroffen. Überall ‚Kunst im öffentlichen Raum‘ – aber wo & was ist dieser ‚öffentliche Raum‘? Jedermans Wahrnehmungsraum, ein Denkraum, funktional bestimmte Orte, Medien oder einfach ein Denkkonstrukt?

I.
‚Kunst im öffentlichen Raum‘-Projekte waren bereits in den 80ern eine bevorzugte Form der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst. Und der Kunst mit Gesellschaft. Einerseits läßt sich im Außenraum, fern der neutralen und auch elitären Kunst-Räume, z.B. der Autonomieanspruch der Kunst noch einmal kritisch betrachten. Oder die oft im Innenraum angestrebte Konfrontation (auch Verbindung) der Werke mit Architektur, was im urbanen Raum anderen Gesetzten gehorcht. Andererseits ist Öffentlichkeit ein Ort des Eingreifens, die Möglichkeit, der Kunst eine Partizipation an, wenn nicht sogar Umstrukturierungen von gesellschaftlichen Interaktionsweisen einzuräumen. So wird per Kunst der öffentliche Raum zum Wahrnehmungsraum und erfährt als solcher eine Umbewertung vom nützlichen zum kulturellen Raum.
Teil des öffentlichen Raumes sind die Bewohner und Passanten, die anfangs auf diese Neubesetzung ihres Raumes mit bemerkenswerter Aggresivität reagierten. Seit der ersten wichtigen Ausstellung dieser Reihe, seit „Umwelt-Akzente“ 1970 in Monschau, folgte auf massives Auftreten von Kunst im öffentlichen Raum eine massive Zerstörungswut. Ob 1986 im Jenisch Park in Hamburg oder drei Jahre später in Münster, „Skulptur Projekte Münster“ (um nur einige Beispiele zu nennen) – eine unbekannte Öffentlichkeit wies die Kunst vandalierend zurück. Zieht man hier in Betracht, daß dieselben Orte, die zum Wahrnehmungsraum erklärt worden sind, in den Augen der sie tagtäglich Benutzenden zunächst als nützliche und sogar als Teil des privaten Raumes erfahren werden, verwundern solche Reaktionen weniger.

II.
Am Ende der 80er Jahren hat mittlerweile jede deutsche Stadt, die etwas auf ihre Kulturoffenheit hält, mindestens eines solcher Kunst im öffentlichen Raum-Projekte durchgeführt. Das Verhalten der feiwillig-unfreiwilligen Betrachter wandelt sich. Die Gegenreaktionen lassen langsam nach, was teils auf einen Gewöhnungseffekt zurückzuführen ist, teils aber sicher auch auf die zunehmende „Kübelitis“ (wie, glaube ich, Kasper König den Designterror der Innenstädte einmal nannte). Laternen, Bänke, Abfalleimer, Blumenkübel – alles wird sorgfältig überstaltet. Strom- und Briefkästen sind die einzigen Konstanten im visuellen Stadtbild geblieben, alles andere ist rundum (sowohl die Objekte als auch die geographische Verteilung im Lande) neu. Die Forderung einer – zunächst visuellen – Auseinandersetzung der Passanten mit der Stadt geht also nicht nur von den Kunstobjekten, sondern auch von dem alltäglichen Stadtmobiliar aus. Eine Forderung, die im übrigen bereits jeder Architektur immanent ist.
‚Auseinandersetzung‘ ist immer wieder Lieblings-Stichwort sämtlicher Außenprojekte. Das Frankfurter ‚Römer‘-Projekt visiert diese in dem parallel erschienenen Katalögchen nicht nur zwischen Bevölkerung und Kunst, sondern auch zwischen Kunst und Stadtarchitektur an, als „Mittel zur akzentuierten Gestaltung der Stadt“ (Kat.text). In der Außenraum-Ausstellung des – zur Zeit wegen Renovierung geschlossenen – Frankfurter Kunstvereins dagegen wird weder auf die Architektur noch die Bevölkerung, sondern kurz auf „die unterschiedlichen, der Kunst heute zur Verfügung stehenden Strategien und Medien“ verwiesen. Entgegen dem Projekt des Vereins „Schöneres Frankfurt“ (sic!) sind nicht arrivierte, internationale Namen gefragt, sondern es wird ein (alljährliche stattfindender) Überblick über Frankfurter Künstler gegeben.
Während Frankfurts ehrgeiziges Projekt den öffentlichen Raum als einen architektonischen ausweist, ist der Bestimmungsort des Kunstverein-Projektes als „nicht-institutioneller“ gekennzeichnet. Mit solchen Eingrenzungen wird versucht, die mit all den Projekten zusammenhängende Frage nach einem ‚Wesen‘ des ‚öffentliche Raumes‘ zumindest anzutippen. Sowohl ‚öffentlich‘ als auch ‚Raum‘ ist nur schwer zu definieren. Beide Begriffe erhalten in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche Bedeutungen – was durch die Kombination und den Kontext noch verstärkt wird. Beide sind im Zusammenhang mit Kunst zunächst kunstimmanent bestimmt – Kunst ist zwar im ersten Schritt (dem Schaffen) privat, aber in der Konsequenz (der Präsentation) immer öffentlich, ‚Raum‘ ist ein immer zu bewältigendes Problem jedes Kunstwerkes. Anders ist es, wenn ‚Stadt‘ als Ordnungsrahmen vorgegeben wird. Dann ist ein Ort festgelegt, der sich z.B. darüber bestimmt, daß sich etwas beobachten läßt (von der Architektur bis zu ‚dem Unbekannten‘).

III.
Beobachtung als Bestimmungskriterium ist Thema des Beitrages zur Kunstvereins-Ausstellung von Achim Wollscheid. Aufgrund der Befragung des Ortes, aber auch der Betrachterreaktionen auf seine Werke, beauftragte Achim Wollscheid drei Tage lang einen Detektiv. Die Observation selbst findet allerdings keinen Eingang in die Arbeit, sondern in einem weiteren Schritt sind drei „professionelle Beobachter“ dazu aufgefordert, einen Text in Auseinandersetzung mit dem jeweils eigenen Beobachtungssystem zu schreiben. Ein Psychologe, ein Geheimdienstler, ein Schriftsteller – der vierte, ein Beichtvater, sagte seine Teilnahme ab. Die Texte finden sich in der Stadtzeitschrift ‚Journal Frankfurt‘ abgedruckt. Der eingangs als Wahrnehmungsraum gekennzeichnete Ort wird in Achim Wollscheids Beitrag als einer der Beobachtung reflektiert. Was sich schon in Bestimmungen wie ‚architektonisch‘ und ’nicht-institutionell‘ andeutet, findet hier letzte Bestätigung: Der öffentliche Raum ist ein abstrakter Raum, der als gedachter oder zu denkender existiert, ohne materielle Substanz.
Die Frage nach dem Wesen von Öffentlichkeit führt unweigerlich zu weiteren zu klärenden Begriffen wie ‚Stadt‘, ‚Metropole‘, ‚Urbanität‘. Hier derartige Untersuchungen vorzunehmen ist ausgeschlossen(1). Lediglich auf das Konzept der Urbanität sei ein Blick geworfen: Entgegen den Kennzeichnungen ‚Stadt‘ oder ‚Metropole‘ ist hiermit eine Möglichkeit gegeben, den Begriff des Territoriums zu umgehen. ‚Urbanität‘ umfaßt Phänomene der Bezugsfelder, die allerdings – so, wie z.B. soziale Beziehungen – physisch nicht fixierbar sind. Während der Begriff der Stadt immer auch das Schweigen(2) (im Sinne von Kommunikationsstörung und Schutz, was zur Passsivität und Entleerung der Öffentlichkeit führt) impliziert, bezeichnet das Konzept der Urbanität die Teilnahme an einem System, an einer Kommunikationssituation(3). Dies ist insofern entscheidend, als Kommunikation Teil der Wesensbestimmung von Kunst ist, und dies umsomehr im urbanen Raum: kommunikationsauslösend, in direkter Kommunikation – und Konfrontation – mit dem leblosen und lebendigen Umraum. Oder – wie Achim Wollscheid, und, wie noch zu sehen sein wird, die meisten Künstler des Hannover-Projektes – direkt in den Medien.

IV.
Begeben sich die Ausstellungsbeiträge in die Medien, so wird die Konfrontation mit einem Teil des Umraums, mit all den städtischen Monumenten, Denkmälern und übrigen Kunstwerken umgangen. Denn die Kunstprojekte im öffentlichen Raum finden sich nicht nur mit Architektur und Bevölkerung, sondern auch mit permanent installierten Kunstwerken konfrontiert. Hier sei nur auf die daran maßgeblich beteiligte ‚Kunst am Bau‚-Verordnung(4) verwiesen, die das Goebbelssche Reichsministerium 1934 erließ und mit der die Beteiligung von Künstlern an staatlichen Baumaßnahmen geregelt wurde. 1950 wurde diese Verordnung fast wörtlich vom Deutschen Bundestag übernommen. Es galt die Forderung an die Künstler nach einer „sinnvollen“ Tätigkeit im Dienste der Gesellschaft. Mengen dieser „künstlerischen Ausstattung“, wie es dann genannt wurde, finden sich noch heute in den bundesdeutschen Städten. Regionale Architektur, regionale Kunst(5). Der Ort war politisch bestimmt.
Und noch immer gilt: Wann immer eine Auseinandersetzung der Kunst mit der Stadtarchitektur gefordert wird, versteckt sich dahinter diese Idee der „sinnvollen“ künstlerischen Tätigkeit. Die Vorgabe, als chirurgische Nothelfer die Peinlichkeiten und Mängel vor allem der Nachkriegsarchitektur zu überdecken und gleichzeitig von dem Reichtum und der Offenheit der Stadt zu reden, umgehen mehr und mehr Künstler. Eine Möglichkeit: Immaterielle Werke werden an immaterielle Orte plaziert – der öffentliche Raum wird zur Medienöffentlichkeit.

V.
Zwei generelle Möglichkeiten im öffentlichen Raum lassen sich konstatieren: tatsächliches Eingehen auf die örtliche Situation oder einfaches Fortfahren mit der eigenen Kunst, gleich, ob die Werke nun in der Galerie oder unter freiem Himmel, in der Stadt, im Kaufhaus oder in der Zeitschrift gezeigt werden. Dies bedingt natürlich zuweilen einen Materialwechsel, der wiederum Einfluß auf das einzelne Werk nimmt. Aber das führt noch nicht zu einer theoretischen Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Ort. Künstler wie z.B. Picasso, Calder oder Henry Moore zeigten drinnen wie draußen ihre abstrakten Formen. Diese Werke werden übrigens in Amerika „plopp-art“ genannt – da die Skulpturen meist erst nach Abschluß aller architektonischen Eingriffe dort abgesetzt, plopped down, wurden. Mag sein, daß in Zeiten der Herrschaft des Internationalen Stils keine andere Kunst sich neben der Architektur behaupten konnte – oder wollte? Und das die neuangetretene – und schon wieder abgemeldete – Postmoderne die Türen für künstlerische Beteiligung öffnete. Und daß in den späten 60ern und den 70ern jede Form künstlerischer Betätigung im Außenraum natürlich einer politischen Prüfung unterzogen wurde, die immer die Alternative ‚Kindergarten oder Skulptur‘ in der Hinterhand mitführte. Das galt allerdings hauptsächlich für den europäischen Kontinent, denn zu jener Zeit begannen die Land-Art-Künstler in Amerika von einer Zusammenarbeit zwischen Architekten, Landschaftsplanern, Ökologen und Künstlern zu sprechen. Es zu fordern. In jenen Konzepten wurde der Ort explizit zum Teil der Kunst erklärt, nicht nur formal, sondern gerade auf inhaltlicher Ebene (Geschichte des Ortes, Funktion etc.).
Innerhalb solcher kontextbezogenen Arbeiten ist der öffentliche Raum ausschließlich ein gedachter. Die Kooordinaten Geographie, Kultur, Geologie setzen die Grenzen. Will man den öffentlichen Raum spezifizieren, so stellt sich die Frage nach dem Bezugsraum. Im architektonischen Raum wird dieser durch Proportionen und Maßstäblichkeit(6) gegeben. In der bildenden Kunst ist dieser durch Sprache und Sprachregelungen bestimmt. So ist bereits der Begriff ‚öffentlicher Raum‘ ein Sprachbild, das unterschiedliche Konnotationen bündelt. Dabei kommt dem Wortpaar innen/außen und dem Pendant zu ‚öffentlich‘, nämlich ‚privat‘, die größte Bedeutung zu. Noch im 17. Jahrhundert ist ‚public‘ mit dem Gemeinwohl einer Gesellschaft gleichgesetzt worden, während ‚private‘ ‚priviligiert‘ bedeutete(7). Heute ist dem einen ‚Anonymität‘ und dem anderen ‚Intimität‘ zugeordnet. ‚Öffentlich‘, das bedeutet dem prüfenden Blick von jederman zugänglich. ‚Öffentlich‘ ist kein abbildbarer Ort, sondern ein Knoten verschiedener Eigenschaften – was nirgendwo deutlicher wird als in dem Verständnis der Medien als öffentlichem Raum.
In mediale Räume begaben sich sämtliche Künstler des „Außenraum Innenstadt„-Projekt des Sprengel Museums in Hannover (das übrigens ebenfalls wegen Renovierung geschlossen ist): Plakatwände (L. Johnson, B. Kruger, M. Mullican, L. Weiner, D. Froelich), Straßenbahnen als Werbeträger (P. Cazal), Bildschirme in Kaufhausauslagen (G. Bender), Kino (L. Lawler), Tageszeitungen (T. Ulrichs) und Stadtzeitschrift (L. Lawler, P. Cazal). Louise Lawler z.B. setzt  ihren ‚öffentlichen Raum‘ zugleich in ein Kino und in den Film-Raum. Sie zeigt ihre aus den 70ern stammende Filmprojektion „Movie without pictures“ im Vorprogramm eines Kinos und schaltet parallel dazu in der Stadtzeitschrift ‚Schädelspalter‘ eine Seite mit Standbildern aus berühmten Filmen. Diesem Bildraum entgegengesetzt zeigt sich Philippe Cazals Raum als einer der Funktionalisierung – „Der öffentliche Raum wird zu einer Funktion der Fortbewegung“ (R. Sennett).

VI.
Die Beiträge zu „Außenraum Innenstadt“ definieren den ‚öffentlichen Raum‘ vor allem über Medien. Dagegen scheinen die Beiträge der vorangegangenen Ausstellung, „Im Lärm der Stadt“(8) eher traditionell. Dieses Projekt schloß allerdings auch an die vorjährige Skulpturenausstellung „Bis jetzt„(9) an. Dort wurde ein historischer Überblick über die Entwicklung der Außenplastik in Deutschland gegeben. Viel ‚plopp-art‘ war versammelt, Arbeiten von z.B. Heinz Mack, Alf Lechner, Michael Croissant u.v.a. Allerdings distanzieren sich davon nur wenige Künstler der jüngeren Generation deutlich durch ihre Beiträge für das Projekts „Im Lärm der Stadt“. Mit dem Titel wird sowohl das Getöse des Verkehrs, als auch das visuelle Getöse herbeiassoziiert – ein Rahmen, der es dann verwundern läßt, wenn trotzdem die lauten Orte, z.B. die  Fußgängerzone, als Kontext von den Künstlern ausgesucht werden – wenn die Öffentlichkeit sich derartig über den Platz zu definieren scheint. ‚Platz‘ ist dabei als Ort einer Vielfalt von Aktivitäten zu verstehen, der Menschen zusammenzuführen und zu mischen vermag. Solche Orte trugen einmal die Merkmale, holistische und integrative Erfahrungen zu ermöglichen. Heute ist jede Anknüpfung an solche Möglichkeiten einer Teilnahme nicht mehr haltbar.
Die Art der Zusammenkunft im öffentlichen Leben, an öffentlichen Orten, läßt sich heute am ehesten als ‚instrumentell‘ bezeichnen. Einem derartigen Gefüge entsprechend verlegen eben viele Künstler ihre Orte des Eingreifens in funktionale, mediale oder prozessuale Räume. So plaziert z.B. Wilhelm Mundt das erste öffentliche Multiple in die Stadt: ein Alt-Flaschen-Container, den er leicht umwandelte und zum gewohnten Gebrauch abstellt. Gebrauchsfunktion + Skulptur – ein Objekt, das vielleicht von der Containerfirma aufgegriffen und massenproduziert wird. Mit diesem Beitrag hat Wilhelm Mundt das auf architektonische Räume aufbauende Konzept des „Im Lärm der Stadt“-Projektes verlassen. Denn mit diesem Container ist sehr ähnlich den „Aussenraum Innenstadt“-Beiträgen die Frage gestellt, welchen Prinzipien ein Kunstwerk im öffentlichen Raum folgen kann. Und unter welchen Bedingungen von ‚Ausstellung‘ zu sprechen ist.
Läßt Mundts Beitrag schon eine kontemplative Haltung dem Werk gegenüber nicht mehr zu – nur gekoppelt an dessen Funktion -, so verlangen die Medien-Werke gänzlich neue Betrachterpositionen. Die Beiträge sind meist nur zufällig oder zu limitieren Zeiten zu sehen. Der Betrachter kann hier nicht wie während der „Skulptur Projekte Münster“ einer vorgegebenen Route folgen, die Kunst mit dem Taxi abfahren. Die Beiträge werden nebenbei bemerkt, und es ist auch der Zufall, der den Passanten zum Betrachter macht und anschließend vielleicht gezielt nach Weiterem Ausschau hält. Der nebenbei zum aktiven Teilnehmer des urbanen Raumes wird.
Distanz als Kennzeichen von öffentlichem Raum – im Gegensatz zur Nähe im privaten Raum – findet in Gretchen Benders Beitrag in Hannover seinen radikalsten Ausdruck: ein Bildschirm im Schaufenster eines Kaufhauses(11), der Betrachter draußen im Stadtraum, ferngehalten von den Bildern durch die Scheibe, aber auch durch die aufgedruckten Kommentare. Das Schweigen der Passanten wird hier vervielfältigt – man sieht mehr und agiert weniger! Der öffentliche Raum – eine Durchgangssituation.

VII.
Beiläufig, auf den täglichen Wegen, durch ständige Wiederholung oder eingetaucht in andere Träger – ebenso, wie die Werbung – präsentieren sich die Kunstwerke. Und ebenso beiläufig stellt sich die Sinnfrage, die dann, beim weiteren Gang durch die Stadt, vielleicht zu erhöhter Aufmerksamkeit gegenüber den Dingen und der unmittelbaren Wirkung der Umwelt auf das Gefühlsleben beiträgt. Zur Aufmerksamkeit dem Unbekannten gegenüber.
Auf „künstlerische Interventionen in den Stadtraum“ und „Auseinandersetzung von Kunst im urbanen Zusammenhang“ basiert auch das Wiener Außenprojekt. „Topographie“(10) teilt sich in drei ‚Räume‘: „Festraum“ (L. Weiner, M. Kippenberger), „Untergrund“ (G. Bielz/R. Schnell, P. Fend, D. Gonzalez-Foerster/B. Joisten/P. Joseph/P. Parreno, G. Hill, T. Keane, J. Scher) und „Mediale Reflexion“ (G. Rockenschaub). Gerwald Rockenschaub z.B. begab sich ähnlich den Teilnehmern des Hannover-Projekt in die Medien und schaltete einen sehr kurzen (Farb-)Beitrag in einen Werbeblocks im österreichischen Fernsehen, ließ eine pur rote Doppelseite als Beilage in der Tageszeitung „Neue Kronen Zeitung“ legen und schaltete einen kurzen Kinospot. Im Stadtraum installierte er einige Farbtafeln und eine (leider nur eintägige) Großprojektion auf eine Hauswand. Peter Fend dagegen bediente sich der Medien Plakat und Bildschirm in den verschiedenen Stationen der U-Bahnen: Er plazierte vier Monitore, die Informationen zu den Themen Donaumündung, Tschernobyl, mobile Raketenbasen in der Sowjetunion und Schwarzmeerregion zeigten. Informationen, die auf ökologische (und damit verbunden ökonomische und politische) Probleme hinweisen, wie etwa Algenfelder (und deren mögliche Verwertbarkeit). Ein Begleitblatt gibt die wichtigsten Hinweise, und unten in den Stationen hängen Plakate an den Wänden. Unauffällig zwischen oder neben Werbeplakate plaziert Peter Fend hier eine Landkarte. „Heimaten“ steht in großen Buchstaben darüber. Sämtliche Länder, gleichgültig der Nationalitäten, Rivalitäten und Religionen, die an der Rettung (bzw. der Verseuchung) des Schwarzen Meeres beteiligt sind oder sein sollten, sind darauf zu sehen. „Ein Land – viele Heimaten“ ist die Arbeit benannt – das ‚Schwarze Meer-Land.
Während die meisten in den U-Bahn-Stationen gezeigten Arbeiten Freude an den Möglichkeiten des Mediums ‚Video‘ demonstrieren und kaum über einen kontemplativen Anspruch & Eingriff hin- ausreichen, schaltet sich Peter Fend direkt in ‚öffentliche Themen‘ und öffentliche Medien ein. Sein Interesse gilt nicht kunstimmanenten Belangen, sondern den Meeren als Kulminationspunkt weltökologischer und -politischer Probleme.
Nicht als einen die Welt einschließenden Raum, sondern auf die visuellen Qualitäten einer U-Bahn-Fahrt eingegrenzte Intervention präsentiert Gary Hill seinen Videobeitrag. Auf 7 Monitoren werden Bilder gezeigt, die scheinbar aus dem Fenster eines fahrenden Zuges gesehen werden. Tatsächlich aber handelt es sich um Bilder aus dem – an die U-Bahn-Station angrenzenden – Stadtpark. Technisch sind alle Bilder in einem Videoband zusammengefaßt, die dann in einer fortlaufenden Reihe über die Monitore gespielt werden. Der Ablauf wird durch eine computergesteuerte Schaltung bestimmt, die unterschiedliche Zeitsignale übermittelt. So wird die täglich zu machende Erfahrung vorbeifliegender, zusammenhangloser Bilder schon vor Antritt der Fahrt oben in der Schalterhalle präsentiert. ‚Öffentlich‘ ist hier als bewußte Auseinandersetzung mit dem visuellen Raum verstanden.
Keine U-Bahn-Station in Wien ist ohne Kameraüberwachung. Meist sind sogar je zwei Videokameras auf jede Rolltreppe und auf jeden Bahnsteig gerichtet, die in Direktübertragung die Geschehnisse auf Monitoren zeigen. Erstaunlicherweise hat nur Julia Scher Bezug auf dieses Überwachungssystem genommen. Nicht nur, daß Überwachung Städte strukturieren und explizit auf die Bestimmung des öffentlichen Raumes als Ort von Beobachtungen verweisen. Zugleich verändern sie die Raumerfahrung grundlegend – lassen den Beobachteten zum Beobachter werden, das unbekannte Terrain zum eingegrenzten und überschaubaren Bereich, den Ort des Eingreifens zum (Monitor-)Bild schrumpfen. Das mit dem Wiener Projekt direkt angesprochene Konzept einer Beteiligung findet in den öffentlichen und auch in den künstlerischen Kameras seine Nivellierung – oder die Aufforderung, als beobachtender Beobachter die öffentlichen Räume zurückzuerobern.
Distanz als Kennzeichen von öffentlichem Raum – im Gegensatz zur Nähe im privaten Raum – findet in Gretchen Benders Beitrag in Hannover seinen radikalsten Ausdruck: ein Bildschirm im Schaufenster eines Kaufhauses(11), der Betrachter draußen im Stadtraum, ferngehalten von den Bildern durch die Scheibe, aber auch durch die aufgedruckten Kommentare. Das Schweigen der Passanten wird hier vervielfältigt – man sieht mehr und agiert weniger! Der öffentliche Raum – eine Durchgangssituation.

VIII.
Anhand der genannten Ausstellungsprojekte läßt sich der unbekannte öffentliche Raum jetzt in lauter bekannte Teilräume untergliedern. Schnittmenge sämtlicher Räume sind Beobachtung und das ´Unbekannte´. Die der Kunst im öffentlichen Raum traditionellerweise zugeordnete repräsentative Funktion oder das Postulat nach Intervention und Bewußtmachung wird in den aktuellen Ausstellungen immer mehr abgelöst durch eigene Strukturierungsmaßnahmen. So ist es auch zu erklären, daß viele Künstler den Zwang, innerhalb des Stadtraumes notgedrungen mit einem eingegrenzten Territorium konfrontiert zu sein, mit dem Schritt in die Medien umgehen.
Teil des Territoriums ist die Unterscheidung zwischen innen und außen, die in der Medienöffentlichkeit entfällt. Ebenso, wie die der Öffentlichkeit zugeordnete Charakterisierungen ‚Entfremdung‘, ‚Isolation‘ und ‚Passivität‘. Stattdessen werden sämtliche Teilräume – vom Stadtraum bis zum Erfahrungsraum, vom öffentlichen bis zum kulturellen – zum unbekannten Terrain, der gesellschaftlichen Überwachung noch nicht eingegliedert und neu zu betreten. Ein geistiges Betreten. Und hier liegt auch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Lokalisierung des öffentlichen Raumes: Der ‚öffentliche Raum‘ ist ein Bezugraum des Denkens! Die Frage nach der Lokalisierung muß also eine nach den Koordinaten sein. Oder einfacher: statt nach dem Objekt ‚öffentlicher Raum‘ muß nach dem Objektiv, durch das dieser Ort gesucht wird, gefragt werden. Das Objektiv in der Kunst heißt ‚Beobachtung‘ und teilt uns mit, daß der wahrnehmbare Raum ein Ort von Projektionen ist – dreidimensionale Projektionen abstrakter Räume, die durch die verschiedenen Beoabachtungssysteme strukturiert sind.
Oder mit Thomas Schüttes(12) Worten: „Der eigentliche öffentliche Raum ist in den Köpfen und zwischen ihnen.“

veröffentlicht in: ARTIS Dez. 1991

(1) Zur kurzen Einführung in diese Thematik sei auf den Beitrag von M. Perniola, Urban, mehr als urban, im Katalog der Ausstellung „Topographie. Untergrund“ (Wien) verwiesen.
(2) vgl. hierzu Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M. 1983
(3) vgl. M. Periona
(4) Eine ausführliche Erörterung zu den historischen Hintergründen dieser ‚Kunst-am-Bau‘-Regelung findet sich in: Kunst im öffentlichen Raum. Denkanstösse der 80er Jahre. Volker Plagemann (Hrsg.), Köln 1989, Verlag DuMont. Hier werden auch die wichtigsten Ausstellungen im öffentlichen Raum ausführlich vorgestellt.
(5) An dieser Stelle wäre es höchst interessant, der Frage nachzugehen, ob die proportional übermäßige Beteiligung amerikanischer Künstler an ‚Kunst im öffentlichen Raum‘-Projekten tatsächlich noch hiermit in Zusammenhang steht.
(6) vgl. hierzu: Philippe Boudon, Der architektonische Raum. Über das Verhältnis von Bauen und Erkennen, Basel Berlin Boston 1991
(7) vgl. R. Sennett, S. 31
(8) Organisiert wurden Ausstellung – im Rahmen des Gesamtvorhabens „Inspiration“ – und begleitender Katalog von Lothar Romain.
(9) Auch diese Ausstellung fand im Rahmen des Gesamtvorhabens „Inspiration“ unter der künstlerischen Leitung von Lothar Romain statt.
(10) Geplant wurde diese auf fünf Jahre angesetzte Projektreihe der Wiener Festwochen von der Porjektgruppe H. Draxler, S. Eiblmayr, G. Eichinger und C. Knechtl, S. Neuburger, G. Schöllhammer.
(11) Auch hier stellt sich noch einmal die Frage, ob ein Kaufhaus denn als öffentlicher Raum bezeichnet werden kann. Interessant ist sicher die Funktion, die dieser Einrichtung bei dem Wandel der Öffentlichkeit zukommt (vgl. R. Sennett).
(12) Kunst im öffentlichen Raum, s.o., S. 294