Yoshitomo Nara: Grimmige Girls in der Albertina

02. Sep. 2023 in Ausstellungen

Yoshitomo Nara, Ships in Girl, 1992. Collection of the artist | Courtesy Pace Gallery © Yoshitomo Nara | Foto: Yoshitomo Nara

Mit 600 Werken seiner grimmigen Girls ist der japanische Superstr Yoshitomo Nara in einer großartigen Retrospektive in der Albertina Modern in Wien zu sehen

Mit einem Hammer bewaffnet steht das kleine Mädchen vor dem Spiegel. Nur ein Radio und eine Glühbirne umgeben sie. Ihr riesiges Spiegelbild kann grimmiger kaum sein. „Schau dich an. Dein Gesicht sieht im Spiegel so schlecht aus. Du wirst es zerbrechen“ ist darüber geschrieben. In dieser großartigen Zeichnung von Yoshitomo Nara kommen alle zentralen Momente seines Werkes zusammen: die Einsamkeit, die Wut, aber auch die Musik. Nara zeichnete es 1997. Da lebte er in Deutschland. Zunächst wollte er in London studieren, die Universitätsgebühren waren aber zu teuer, erzählt er anlässlich seiner großen Personale in der Albertina Modern in Wien. Es ist seine erste große Institutionsausstellung seit zehn Jahren, zu der rund 600 Zeichnungen von 1984 bis heute zu sehen sind. Also entschied er sich 1988  für die Düsseldorfer Kunstakademie. Eigentlich zog es ihn in die Klasse von Fritz Schwegler. Dessen spielerischen Bildmotive und Wortspiele hätten tatsächlich gut zu Naras Bildwelten gepasst. Aber erstens sei die Klasse voll gewesen, und zweitens habe ihm der Professor geraten, „einen wilderen Künstler“ zu wählen, wie Nara im Gespräch perfekt deutschsprechend erzählt. So studierte er bei Michael Buthe, nach dessen frühen Tod 1994 dann bei AR Penck – zwei Malstile, von denen Naras Werk auffallend unbeeinflusst blieb. Auf Nachfrage erwähnt Nara nur schmunzelnd, Penck wäre wichtig gewesen, denn er hätte ihn damals ermutigt, auch auf Leinwand zu malen. Und fügt hinzu: „Ich bin nicht so ein ernsthafter Künstler wie Sie meinen.“

Ausstellungsansicht: Yoshitomo Nara – ALBERTINA MODERN, Courtesy of the artist and Pace Gallery | © Yoshitomo Nara | Foto: © Sandro E. E. Zanzinger

Aber das ist offensichtlich ein charmantes Understatement. Denn tatsächlich hat der 1959 geborene japanische Superstar ein einzigartiges, unverkennbares und enorm facettenreiches Oeuvre geschaffen. In seinen Bildmotiven sehen viele die Tradition der Mangas, jener japanischen Comics kindlicher Superhelden. Aber Nara verdichtet jene Bildfolgen in ein einzelnes Bild, das keine Geschichte erzählt, sondern eine Emotion kommuniziert. Mit nur wenigen Strichen gelingt es ihm, die oft radikal deformierten kindlichen Figuren als starke Persönlichkeit anzulegen. Durch das Kindchenschema des proportional großen Kopfes, der hohen Stirnregion und den großen Augen wirken sie niedlich. Über die Augen- und Mundformen verleiht Nara ihnen eindrückliche Emotionen, die im krassen Widerspruch dazu meist widerständig, wütend, aggressiv und sogar böse wirken. Nur eines sind seine „angry girls“, wie sie oft genannt werden, nicht: bedrohlich. Denn seine kleinen Helden entstanden damals in Düsseldorf in einer schwierigen Lebensphase. Da habe er sich an seine Kindheit in einer sehr ländlicher Umgebung in der nördlichen Provinz Aomori in Japan erinnert. Seine Eltern waren berufstätig, seine Brüder selten zuhause, „ich war viel allein.“ In Düsseldorf habe er dann Selbstgespräche mit seinem achtjährigen Ich in Aomori begonnen. Aber sind die Figuren mit den kurzen Kleidchen nicht Mädchen? Für ihn seien es nicht eindeutig weibliche Wesen, sondern „Erinnerungen an meine Kindheit“. „Es sind Selbstportraits.“ Albertina-Direktor Klaus-Albrecht Schröder sieht darin Größeres, er spricht von Bildern des „Zustands unserer Welt“ und zieht eine Linie von Raffael und Dürer bis Nara als „Weg der Zeichnungen“.

Yoshitomo Nara, Ausstellungsansicht: Drawing Table, Courtesy of the artist and Pace Gallery | © Yoshitomo Nara | Foto: © Sandro E. E. Zanzinger

Naras künstlerischer Weg jedenfalls ist in der Wiener Personale bestens zu studieren. Dicht über- und nebeneinander hängen die frühen Werke, im nächsten Raum drängeln sich Mengen davon in zwei Vitrinen zusammen – er liebe die Albertina als Haus der großen Druckgraphischen Sammlung, erzählt er, aber er habe mit seiner Präsentation die strenge Ordnung hier außer Kraft setzen wollen, bemerkt er humorvoll. Gerade in dieser geballten Präsentation sticht hervor, wie Bild für Bild zunehmend nur mehr ein einziges Motiv in einem weitgehend leeren, unbestimmten Raum dominiert. Wie schnell notierte, in ein einzigen, kurzen Moment kondensierte Emotionen erscheinen die Bildfiguren, selten auf hochwertigem Papier, stattdessen auf Notizblättern, Briefumschlägen, Pappkartons, Einladungskarten oder Papierfetzen gezeichnet. Seine Werke entstanden und entstehen noch heute intuitiv, oft beflügelt von Musik. Denn das ist neben seinen Erinnerungen seine zweite Inspirationsquelle. Schon als kleines Ich in Aomori öffnete ihm ein US-amerikanischer Radiosender einer benachbarten Air Base eine neue Welt. Gefragt nach seinen musikalischen Vorlieben hörte er kaum noch auf zu erzählen, wie alles damals mit Country- und Rockmusik begann. „Ich habe nichts verstanden und mir nur vorgestellt, was es bedeuten kann“ erinnert er sich. Es folgte seine Liebe zu Punk Rock und in Düsseldorf zur Neuen Deutschen Welle. Die Musiker lernte er in seinen Jahren im Rheinland nicht kennen, die Namen der Bands kann er aber schnell aufzählen, besonders von „Der Plan“ sei er ein Fan gewesen. In seinen Zeichnungen notiert er oft Songtitel oder einzelne Textzeilen, seine Wiener Ausstellung heißt „All My Little Words“, Titel eines Liebes-Songs der US-Band The Magnetic Fields.

Yoshitomo Nara, Ausstellungsansicht: My Drawing Room 2008 (Außenansicht), Bedroom Included, 2008. Courtesy of the artist and Pace Gallery | © Yoshitomo Nara | Foto: © Sandro E. E. Zanzinger

Im letzten Raum seiner Schau schallt uns dann Musik entgegen. Hier sind seine Skulpturen zu sehen, die aus seiner Verzweiflung nach dem Erdbeben und dem Reaktorunglück in Fukushima 2011 entstanden: mit seinen Händen bearbeitete Tonskulpturen. Und eine merkwürdig ärmliche Hütte, der „Drawing Room“. Ein fiktives Szenario: Atelier, dazu ein Bett, Landkarten, gerahmte Bilder und Mengen von Nippes-Figuren in einer Vitrine – ein „konstruierter Einblick in sein Inneres“ nennt es Kuratorin Elsy Lahner. Nara spricht von einem Rückzugsort, „solch ein Haus habe ich mir als Kind gewünscht“. Dazu läuft eine lange Playlist, Dan Pans „Nobody´s Fool“, „Hangman“ von Tia Blake oder Donnavan Anti-Kriegslied „Universal Soldier” – Musik der 1960er und 1970er, die er als Kind hörte, aber auch Doris Allens „A Shell of a Woman“ von 2008. Es sind meist melancholische Lieder, denn bei aller Rebellion, das zeigt diese grandiose Schau in der Albertina deutlich, ist Einsamkeit das zentrale Grundgefühl aller Bilder von Yoshitomo Nara – eine rebellische Einsamkeit.

Yoshitomo Nara, All My Little Words, 10. Mai bis 1. November 2023, Albertina Modern, Wien

veröffentlicht in: NZZ, 23.5.2023