Zukunft der Tradition, Haus der Kunst, München 2010
Vor einhundert Jahren nannten sie es schlicht „Meisterwerke muhammedanischer Kunst“. Damals sah man im Ausstellungspark auf der Münchner Theresienhöhe mehr als 3600 Werke der islamischen Welt, Teppiche, Tongefäße, Miniaturmalereien. Es war das erste Mal, dass die Objekte nicht aus dem Blickwinkel der Eroberer präsentiert wurden, sondern der Kenner und Bewunderer. Noch heute dient der dreibändige Katalog von 1910 als Nachschlagewerk zur Erforschung islamischer Kunst.
Eine kleine Auswahl von 30 dieser märchenhaften Objekte ist jetzt wieder in München zu sehen, darunter die Keramikschale von 1050 aus Kairo, ein Bronzekessel von 1163 aus dem Iran, Seidenteppiche aus dem 16. Jahrhundert. Im „Haus der Kunst“ allerdings befriedigen diese Werke nicht mehr die westliche Sehnsucht nach einem zauberhaften Orient. Hier stehen sie als Zeugen einer reichhaltigen Kultur inmitten einer Auswahl von zeitgenössischer arabischer und iranischer Kunst – und weisen jeden Versuch eines romantisierenden Blicks scharf zurück. Stattdessen zeugt diese Ausstellung von einem weitreichenden Perspektivenwechsel.
Dies wird sofort unübersehbar in der großartigen Ausstellungsarchitektur von Samir El Kordy: Er unterteilt den zentralen Raum mit transparenten, schwarzen Stoffen in lauter kleine, dreieckige, konzentrierte Zonen. Darin sind die historischen Objekten versammelt, teilweise mit Zeitgenössischem kombiniert, etwa Monir Sharoudys geometrische Spiegelmosaike mit alten Teppichen, oder beherbergen eine kleine Hommage an eine weitere Grande Dame dieser Region, an die seit 1916 in Beirut lebende Saloua Raouda Choucair. Darüber hängen 99 Stoff-Banner, „Die unsichtbaren Meister“ von Rachid Koraichi, die in arabischen Schriftzeichen 14 bedeutende islamische Mystiker zitieren und die 99 Namen Allahs auflisten. „Die Zukunft der Tradition. Die Tradition der Zukunft“ ist diese Ausstellung betitelt und in diesem Eingangsraum entschlüsselt sich das Wortspiel unübersehbar: In diesem neuen Blick auf „muhammedanische Kunst“ ist die Tradition keine getrennte Welt, sondern steht mit der Gegenwart in einen Dialog – es sind verwobene Terrains.
Hier wird auch verständlich, dass der Bezug auf die historische Ausstellung mehr ist als nur ein Jubiläumsakt. Im Jahr 1910 befand sich die westliche Kunst in einen enormen künstlerischen Umbruch, der bald in die abstrakte Malerei und in radikale Reduzierungen wie das schwarze Quadrat von Malewitsch führte. Anregungen aus anderen Kulturen wurden von den Künstlern gerne aufgenommen, wie es auch die jetzt gezeigte Zeichnung von Wassily Kandinsky beweist, der damals eine der ausgestellten, indischen Miniaturen abzeichnete. Während das allerdings eine ziemlich eindimensionale Geschichte war, erzählt diese Ausstellung von einem neuen Verständnis: Von den vielfältigen Verbindungen, die zwischen West und Ost und auch zwischen Tradition und Zukunft bestehen.
Das sind sowohl die Anregungen der westlichen Moderne in den Werken von Choucair als auch die überzeugende Weiterführung eines traditionellen Handwerks in Sharoudys abstrakten Mosaiken. Spuren der Geschichte kann man auch immer wieder in den zeitgenössischen Werken finden, die rund um den zentralen Hauptraum in zehn Kabinetten gruppiert sind: im Video von Kader Attia, in dem eine alte Frau wieder und wieder bunte Glasscherben mit bloßen Händen durchmischt als würde sie Couscous zubereiten; in Akram Zaataris Aufarbeitung eines libanesischen Bilder-Archivs, bis zu dem Raum mit Kalligraphien, Mode und Design, den die Graphikdesignerin Huda Smitshuijzen zusammengestellt hat. In all diesen Werken werden Erinnerungen beschworen und mit der Zukunft verknüpft, der Ist-Zustand analysiert, aber auch die politische Situation kritisiert wie in Wafa Houranis raumfüllenden Modell eines palästinensischen Flüchtlingslagers. Im dazugehörigen Wandtext erfindet er eine traurige Geschichte dieses Lagers bis zum Jahr 2028. Darin ist die quer durch das Westjordanland gezogene Mauer irgendwann verspiegelt worden und die Palästinenser vergaßen, wo die Ein- und Ausgänge sind. Auf der israelischen Seite des Spiegels dagegen wurde eine mondäne Diskothek gebaut.
Indem in den Materialien, Formen, aber auch Themen und Bezügen zwischen dem Zeitgenössischen und den historischen Objekten immer wieder unerwartete Querverbindungen auftreten, lässt diese Ausstellung gerade dank des Rückgriffs ein überzeugendes Bild der Gegenwart entstehen. Ganz nebenbei erhalten wir dazu einen Überblick über eine der spannendsten, jungen Kunstszenen – und sehen noch dazu, wie sehr unsere Kulturen seit Jahrhunderten verbunden sind, wie unnötig die geopolitisch gezogenen Gräben sind, wie selbstverständlich ein kontinuierliches Verständnis jenseits von Märchenglanz und Bazarware ist.
Die Zukunft der Tradition – die Tradition der Zukunft. 100 Jahre nach der Ausstellung „Meisterwerke muhammedanischer Kunst“, Haus der Kunst, München, bis 9.1.2011; Katalog Prestel Verlag, 39,95
veröffentlicht in: Die Presse, 29.12.2010