Im letzten Frühjahr fiel die globale Kunstkarawane in Athen ein. Damals befand sich Griechenland am Tiefpunkt der Krise, die durch Staatsschulden ausgelöst worden war und verheerende soziale Folgen hatte. Mitten hinein grätschte die documenta, um mit Geldern aus Deutschland ein „Lernen von Athen“ auszurufen. Parallel dazu sollte eigentlich die 6. Athen Biennale -kurz AB6 – eröffnen, die der ursprüngliche Auslöser für diese Außenstelle der Kasseler documenta gewesen sei, wie Poka-Yio erzählt. Der Grieche ist Künstler, Kurator und Mitbegründer der Athen Biennale, die 2007 mit dem Anspruch startete, die zeitgenössische griechische Kunst auf die Landkarte der globalen Kunstwelt zu platzieren. „Destroy Athens“ lautete der provokante Titel damals. Ziel war es nicht, die Stadt zu zerstören, sondern die damit verbundenen Stereotypen. Das gelang zwar nicht, aber immerhin erhielt die Kunst seither eine regelmäßige Plattform in der Stadt. Dann aber fiel die ursprünglich in Kooperation mit der documenta geplante AB6 weitgehend aus. Wegen der documenta? „Die documenta war eine Fata Morgana“, fasst es Poka-Yio zusammen. Anfangs sahen sie die Chance, eine europäische Geschichte der Krise, eine allgemein gültige Lektion zu erzählen. „Die Griechen glauben an ein Lernen durch Leiden, so funktionieren Tragödien.“ Aber das documenta-Team suchte weder gemeinsame Gespräche noch wurde in der Ausstellung eine Verbindung zur Stadt aufgebaut. Da sie nicht in Konkurrenz treten, aber auch nicht im Schatten agieren wollten, riefen sie stattdessen ein „Jahr des aktiven Wartens“ auf. Das hat jetzt mit der Eröffnung der 6. Athen Biennale unter dem Titel „Anti“ ein Ende.
Das griechische Präfix Anti bedeutet gegen, aber auch anstelle von, also eine Alternative. Ist dieser dramatische Titel eine Reaktion auf die Enttäuschungen der documenta? „Die documenta ist das Beste, was der Stadt passieren konnte“, erklärt der griechische Co-Kurator Kostis Stafylakis, die Stadt sei auf der globalen Kunstweltkarte angekommen. Tatsächlich meldeten sich für die AB6 800 Journalisten und Kunstinteressierte an, eine Rekordzahl für Athen. Die deutsche Co-Kuratorin Stefanie Hessler betont, seit der documenta gebe es viele neue Kunsträume. Denn einige kamen zur documenta als Besucher, verliebten sich in die Stadt, kauften sich Immobilien und blieben. „Aber die documenta war eine vergebene Chance, etwas über die Krise zu sagen“, fügt Poka-Yio an – was mit der 6. Athen Biennale jetzt offensichtlich nachgeholt wird. Dafür lud das Team rund 100 Künstler aus, davon 25 aus Griechenland, die an vier wenige Gehminuten voneinander entfernten Orten im zentralen Altstadtviertel Syntagma am Fuße der Akropolis ausstellen.
Hier prallen die Welten aufeinander, verfallene Häuser stehen neben brandneuen Hotels, Obdachlose schlafen neben Hipster-Bars, Unmengen Touristen schieben sich durch die engen Straßen. Ist die Krise wirklich vorbei? Im Gegenteil: Mit „Anti“ will das Kuratorenteam auf unsere von Unstabilität geprägte Zeit reagieren, in der Anti bzw. Non-Konformität zum Normalzustand geworden sei, wie Hessler erklärt. Was die Drei dafür in den desolaten Büros des ehemaligen Telekommunikationshauses, der verfallenen Bibliothek und einem ehemaligen Hotel zusammengetragen haben, erzeugt eine zutiefst verstörende, dystopische, schrille Stimmung. In den Skulpturen, Performances und vor allem Videos treffen Cyborgs auf Geisterwesen und parafiktionale Alternativen auf ausweglose Absolutismen. Da entführt uns Joey Holder in die Welt der Konspirationstheorien und Rachel Maclean lässt eine niedliche Alice in ein mörderisches Wesen mutieren. Eine ganze Etage ist kafkaesken Zuständen gewidmet, eine andere zeigt Wellnessfantasien und Selbstoptimierungen als individuelle Rückzugsorte.
Wir sehen, wie sich Marianna Simnett Botox in ihren Kehlkopf injizieren lässt, um ihre Stimmlage zu verändern, was zu Atemproblemen führt. Tianzhou Chen inszeniert in seinem Video erotische Begegnungen zwischen einem geisterhaften, nackten Mönch und einem rotbemalten Mann. Komplett halluzinatorisch wird es in Lu Yangs Video: Ein Neurologe will bei einem Patienten das Tourette-Syndrom heilen und verwandelt sich dann bei dröhnender Musik in einen satanischen Priester mit wilden Folterszenen. Gibt es keine Lichtblicke in dieser Schattenwelt des Anti? Doch, die sieht Hessler in den Werken rund um nicht-normative sexuelle Praktiken, in denen die Körper zu einem Moment des Widerstands werden, zum Zeichen einer queeren Zukunft, „die muss gegen die neuen Konservativen verteidigt werden!“
Einen Hauch von Humor findet sich in der ehemaligen Bibliothek des Parlaments, wo Saeborgs aufgeblasenes Schwein liegt, das lauter kleine Schweine nährt. Nebenan läuft Cao Feis Video, in dem Roboterstaubsauger völlig erfolglos den Schutt einer kollabierten Welt säubern wollen – Kommentare zur Rechtslage der Welt? Nein, diese Biennale will nichts anklagen, auf nichts zeigen – das wäre zu einfach. Diese Biennale ist Bestandsaufnahme und Ausblick zugleich. Poka-Yio: „Wir haben in Griechenland zwar die Krise hinter uns, aber es wird eine noch viel Größere kommen, eine globale. Es wird ein neues Mittelalter entstehen, ohne Demokratie, ohne Rechte, ohne Meinungsfreiheit. Anti ist die letzte Party, darum ist die Stimmung so postapokalyptisch.“
veröffentlicht in: NZZ, 12.11.2018
6. Athen Biennale, 25.10. bis 9.12.2018