Der Problembegriff der Industrialisierung war Entfremdung: Menschen fühlten sich vereinzelt, getrennt von der Natur, von ihrem Arbeitsprozess, von einander. Seit der Jahrtausendwende ist der Terminus nahezu verschwunden. Jetzt steht eine kleine Biennale in Norwegen unter dem Titel „Alienation“.
Von der Krisen-überladenen documenta 14 in Kassel geschädigt, befürchtete man Schlimmstes für die kommenden Biennale – und ist dann angenehm überrascht: Auf der 9. Momentum Biennale werden keine Nöte präsentiert. Hier in Moss, gut 50 Kilometer nördlich von Oslo, werden optimistische Visionen entworfen, alte Hierarchien in Frage gestellt und Neuorientierungen vorgeschlagen. Die Entfremdung, so die zentrale These des fünfköpfigen Kuratorenteams, betreffe nicht mehr in Sinne des Marxismus nur die Arbeiterklasse, sondern das Selbstverständnis aller Menschen, zu sich selbst, zur Natur: „M9 möchte das Fremde willkommen heißen – inklusiv des Fremden in uns selbst“.
Im Akzeptieren des Fremden sieht das Team (Ulrike Flink, Ilari Laamanen, Jacob Lillemose, Gunhild Moe, Jan B. K. Ransu) den Weg für ein „tieferes und reicheres Verstehen der menschlichen Existenz“, für ein neues Verständnis unserer Rolle in der Welt.
33 KünstlerInnen luden sie dafür ein, die in 8 Orten bis zu einer wunderbaren Performance am Strand des Fjords ausstellen. In der Momentum Kunsthall haben Laura Gustafsson und Terike Haapojas ein Labyrinth aus Projektionen aufgebaut. Ihr „Museum Of Nonhumanity“ kritisiert das Modell des Humanismus als ultimative Entfremdung. Mit Zitaten von griechischen Philosophen bis zu Aussagen von Nazi-Ministern zur Juden-Deportation zeigen sie, wie der Mensch sich selbst privilegiert, um andere Lebewesen auszunutzen und sogar auszurotten – ein befremdliches Konzept, das dringend reformiert werden muss.
Unser gestörtes Verhältnis zur Natur steht auch im Zentrum von Linda Perssons Installation. In einem Video erzählt ein indigener Australier von Bakterien, die seit Tausenden von Jahren in der Erde schlummern und früher wetterbedingt nur wenige Tage im Jahr herausgeschwemmt wurden. Jetzt legt der aggressive Bergbau sie ganzjährig frei, durch eine kleine Wunde gelangen sie in menschliche Körper und führen innerhalb von 48 Stunden zum Tod.
Als Glasobjekte im Sand präsentiert, zeigt uns Persson diese Bakterien zugleich als wunderschöne Objekte und als Aufforderung, der Natur mit Respekt zu begegnen.
Im Treppenhaus der Kunsthalle hat Jenna Sutela ein §, das Zeichen für Paragraphen, aus Moos auf die Wand gemalt. Jeden Tag werden die Pflanzen gefüttert, wachsen über die Grenzen des Zeichens hinaus und zerstören damit unsere Idee von Kontrolle.
Als Weg, dem Fremden in uns näher zu kommen, leitet der Psychologe Leon Tan die temporäre Schlafgemeinschaft „Public Dreaming“: Freiwillige treffen sich, um eine Nacht gemeinsam zu träumen, vor- und nachher über ihre Träume zu reden und sich zur Einstimmung mit den fantasievollen Kostümen von Amanda Newall zu vergnügen. Im Gespräch erzählte Tan, dass er in seiner psychotherapeutischen Praxis gerade bei Depressionen immer wieder die Bedeutung des Träumens beobachte – und so die Idee zu diesen Workshops entstand. Und wo, wenn nicht auf einer Biennale zum Thema Ent-, Be- und Verfremden, sollten die stattfinden?
Die in Amsterdam und Wien lebende Sonja Bäumel greift die im menschlichen Körper existieren Mikroorganismen auf, arrangiert sie wie Steine im Halbkreis und lädt uns ein, unter einer Halbkugel liegend neue Formen der Kommunikation mit unseren Mitbewohnern aufzunehmen.
Man möchte jedes einzelne Werk hier anführen, so facettenreich hat das Kuratorenteam diese Biennale angelegt. Kein einziger Beitrag fällt in die tiefe Grube auswegloser Problemerzählungen. Stattdessen sehen wir starke Bilder und konzentrierte Formen wie etwa die Figur mit den riesigen Ohren von Olga Bergmann & Anna Hallin.
Die Form ist von prähistorischen Fruchtbarkeitsgöttinnen aus Syrien inspiriert und erinnert zugleich an außerirdische Aliens, Vergangenheit und Zukunft treffen in diesem hellhörigen Wesen zusammen, das das Künstlerinnenduo in einer historischen Ausgrabungsstätte inszeniert – und in einem beeindruckenden, animierten SF-Film zugleich als Zukunftswesen präsentiert.
Am weitesten geht die norwegische Gruppe Trollkrem (Erik Boe und Jennie Hagevik Bringaker): Am Strand luden sie zu einer entspannten Performance ein, bauten in ihren farbenfrohen Kostümen kleine Wasserbecken, servierten Essen und Trinken, bis eine Taucherin aus dem Meer stieg.
Sie legte Meerestiere in die Becken und erklärte uns anschaulich faszinierende Details über das Paarungsverhalten von Muscheln und das Innenleben von Krebsen.
In der Kunsthalle steht Trollkrems skulpturale Landschaft inklusiv einer Virtual Reality-Brille und zeigt uns die Welt der Tiefsee als neues Universum – in das bisher weniger Menschen eintauchten als ins Weltall. Im Beitrag von Trollkrem findet diese Biennale ihren Höhepunkt, denn hier schlägt die Erfahrung von Entfremdung um in die Aufforderung zum Befreunden. In Moss lernen wir, im Fremden die Chance für die Zukunft zu sehen.
9. Momentum Biennale, bis 11. Oktober, Moss / Norwegen
veröffentlicht in: Die Presse, 10.8.2017