documenta fifteen in Kassel 2022 – ohne Kunst?

10. Jun. 2022 in Biennalen

documenta fifteen: documenta Halle, Außenansicht, 2021, Foto: Nicolas Wefers

documenta fifteen: documenta Halle, Außenansicht, 2021, Foto: Nicolas Wefers

Auf der documenta fifteen wird es unübersehbar, auf der 59. Biennale Venedig hat es uns schon gezeigt: In der Kunst stehen alle Zeichen auf Umbruch. Kunst, wie wir es vom Kunstmarkt, aus Galerien, Museen und Auktionshäusern kennen, rutscht immer mehr ins Beiprogramm – was gerade in Venedig bestens zu sehen ist: Die Blue Chip-Künstler von Georg Baselitz bis Anselm Kiefer sind mit ihren Malereien und Skulpturen in prächtigen Palazzi über die Stadt verteilt, präsentiert von ihren Galerien und fern des offiziellen Biennale-Programms. In den Länderpavillons dagegen beginnt eine neue Zeit. Erstmals sind so viele Indigene zu sehen wie noch niemals zuvor. Deren Beiträge sind meist enger mit ihren thematischen Anliegen verbunden als mit unseren kunstgeschichtlich entwickelten Qualitätsvorstellungen. Da wird etwa eine Neupositionierung von Kunsthandwerk vorgenommen, wenn im Pavillon der Philippinen die Technik des Webens aufgewertet wird: Der Sound der Webstühle ist in Muster für meterlange Stoffbahnen übersetzt. Im Beitrag von Mexiko dient Kunsthandwerk dazu, andere Geschichten zu erzählen. Die von Mitgliedern des indigenen Stamms der Tzotzil gewebten Stoffbahnen verweisen in den Mustern auf DNA Sequenzen, in Anspielung auf die Epigenetik: Welche Faktoren legen die Aktivität und Entwicklung eines Genes fest, wie wichtig sind andere Einflüsse (Santiago Borja )? Fernando Palma Rodríguez´ farbenfrohes Marionettentheater mitten im Raum entpuppt sich als Gruppe kopfloser Hüllen, die am Ende dramatisch in sich zusammensinken – in Erinnerung an die 43 entführten und ermordeten Studenten 2014 in Iquala. In anderen Pavillons geht es um Wissensvermittlung, wenn etwa der Stamm der Selk´nam im Pavillon von Chile mit einer aufwendigen Videoinstallation ihre Sorge um Moore teilen. Sie sehen den Sumpf als lebenden Körper, den es als wertvolles Ökosystem zu schützen gilt – zu recht, denn die Erdoberfläche ist von nur 3 Prozent Feuchtgebieten bedeckt, die aber rund 500 Gigatonnen Kohlenstoff versiegeln. Im Nordischen Pavillon erzählen die Künstler:innen des indigenen Sami-Volks von ihrem tradierten Wissen und kämpfen für ihre Rechte. Früher Lappen genannt, erstreckt sich das Sami-Siedlungsgebiet über Teile Schwedens, Norwegens und Finnlands bis nach Russland. Um die Selbstbestimmung über ihre Rentierherden verhandeln sie seit Jahrzehnten mit den nationalstaatlichen Regierungen – ein Thema, das vor allem Máret Ánne Saras Werk prägt.

Boloho, One Day at Boloho Space in Guangzhou, 2021. Courtesy Bolouho. documenta fifteen

Boloho, One Day at Boloho Space in Guangzhou, 2021. Courtesy Bolouho. documenta fifteen

Ihr Kampf war bereits auf der 14. documenta 2017 in Kassel zu sehen, wo sie mit einem Berg aus toten Schädeln erstmals auf das staatlich vorgeschriebene, aus ihrer Sicht widersinnige Schlachten ihrer Rentiere hinwies. Die Installation war keineswegs als Provokation gemeint – dieses Mittel der Kunst zur Aufmerksamkeitserregung hat schon lange ausgedient. Ihre Schädel waren der tatsächliche Verlust ihrer Herde. Verglichen mit der kommenden documenta, die am 19. Juni 2022 eröffnen wird, ist Saras´ Beitrag geradezu klassisch künstlerisch. Denn die kommende documenta fifteen entledigt sich jeglichen Anspruchs auf Kunst. Was sich in Venedig in den Beiträgen der Indigenen nur andeutet, dominiert in Kassel das Flaggschiff der Weltkunst: Von dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa kuratiert, wird die documenta zur Wissensplattform, auf der – altbekannte – Angebote zum Einsatz kommen: Radiosender, Workshops inklusiv Kaffeeverkostung, Clubabende für queere Gemeinschaften, in der Documentahalle eine Skateboardrampe und eine Druckstraße für Publikationen. Das zentrale Museum Fridericianum wird zur „Schule“, in der Möglichkeiten und Modelle einer horizontal ausgerichteten Bildung präsentiert werden, inklusiv Bibliothek, Seminaren, Karaoke, einem Schlafsaal und einer Küche. Wo werden wohl die Duschen installiert? Thematisch dreht sich auf der documenta fifteen fast um Benachteiligungsidentitäten und lokale bis globale Probleme: eine thailändische Initiative arbeitet zur Milchwirtschaft in Deutschland und Thailand, Britto Arts Trust aus Dhaka konzentriert sich auf Ernährungspolitik und Lebensmittel, die in ihrer Heimat früher typisch waren, aber jetzt zu verschwinden drohen. Im Hübnerareal im Stadtteil Bettenhausen wollen Boloho aus China eine Sitcom drehen, Trampoline House stellt das dänische Asylrecht infrage und in der Hafenstrasse 76 zeigt der Graphiker Nino Bullung Siebdrucke zum Klimawandel aus einer gender-fluiden Perspektive. Kein angesagter Diskurs fehlt auf der documenta fifteen. Kunst im traditionellen Sinn allerdings wird man vergebens suchen. Stattdessen steht die Welt als Problemreservoir zur Debatte, die an 32 Standorten mit dem Ziel verhandelt werden, ein anderes Denken zu fördern: ein Denken als und in Gemeinschaft. Der Grundtenor: Lasst uns reden! Aber bitten nicht über Kunst.

veröffentlicht in: Die Presse, 9.6.2022