Erwin Wurm: Retrospektive in der Albertina Modern, Wien

22. Feb. 2025 in Ausstellungen

Erwin Wurm, Fat Convertible, 2005. Courtesy Erwin Wurm, Bildrecht Wien

Essiggurken, Bockwürste, fette Autos und Handtaschen auf Beinen – die Skulpturen von Erwin Wurm lassen manche Betrachter laut lachen. Warum das ein Mißverständnis ist, zeigt jetzt Wurms große Retrospektive zu seinem 70. Geburtstag in der Wiener Albertina Modern.

Eigentlich wollte Erwin Wurm Malerei studieren. Aber die Professoren an der Salzburger Universität Mozarteum steckten den jungen Studenten kurzerhand in die Bildhauerei. Was für ihn Anfangs ein Schock war, entwickelte sich bald zum Glücksfall. Denn heute ist der 1954 geborene Österreicher ein weltweit gefragter Superstar. Und bis heute verfolgt er jene zentrale Frage, die er sich schon als junger Student stellte: Was eigentlich ist das, eine Skulptur?

Erwin Wurms frühe Werke

Ende der 1980er Jahre begann Wurm mit den zentralen Parametern des dreidimensionalen Arbeitens zu spielen, mit Volumen, Hülle und Zeit. Als den „Nullpunkt“ auf seiner Suche nach neuen Wegen bezeichnet Wurm im Gespräch mit der NZZ seine Staubskulpturen, mit denen auch die Schau in der Albertina Modern beginnt: In einer Vitrine sieht man kaum sichtbare Staubspuren. Es sind Erinnerungen an einen – abwesenden – Gegenstand. Oder die kleinen Kugeln aus zusammengepressten Farbresten – als wollte Wurm damals die Malerei in das Korsett der Skulptur zwingen. Aber es war auch ein erstes Spiel mit der vagen Grenze zwischen Zwei- und Dreidimensionalität – etwas, dass er bis heute verfolgt.

One Minute Sculptures

In jener Zeit entdeckte er für sich, dass eigentlich jedes Material der Welt „der mögliche Beginn eines Kunstwerks sein kann“, wie er einmal erklärte. „Die ganze Welt war wie ein Steinbruch. Das hat eine unglaubliche Freiheit dahergebracht.“ Als ein zentrales Prinzip gilt ihm dabei seine ´Arbeit am Volumen´. Das war Anfangs ein T-Shirt, das er über die Öffnung eines Podests stülpte. Oder der Mann, der all sein Gewand übereinander anzog, was seine Körpermasse extrem vervielfachte. Das Ergebnis hielt Wurm in einem Video fest. Es war zugleich der Beginn seiner wegweisenden Serie, mit der er Ende der 1990er berühmt wurde: die „One-Minute-Sculptures“. „Kann ich aus einer Aktion eine Skulptur machen?“, fragte er sich. Und entwickelte Arrangements, in denen Menschen mit einem Gegenstand eine sekundenkurze Verbindung eingehen: Flaschen zwischen Armen und Beinen eingeklemmt; ein Eimer auf dem Kopf balancierend; in Nase und Ohren eingesteckte Stifte. Die Aktionen halten nur wenige Sekunden, im Medium der Fotografie aber sind sie als bildliche Skulptur verewigt.

Sohn eines Polizisten

Was Anfangs auf Fotografie beschränkt war, ist jetzt ein fixer performativer Bestandteil seiner Ausstellungen. Auf einem Podest stehen dort Objekte, versehen mit handschriftlichen Handlungsanweisen. Die Besucher werden zu Taten aufgefordert, die sonst strengsten verboten sind in Museen: auf den Formen stehen, klettern, damit interagieren. In der Albertina Modern fordert Wurm uns auf, eine rosafarbene Fläche zu betreten, eine Polizeikappe aufzusetzen und einen Stock in die Hand zu nehmen – ob darin eine Verarbeitung seiner Biographie mitschwingt? Erwin Wurms Vater war Polizist, was ihn zu einigen Streichen veranlasste. Einmal, erzählt er, nahm er die Pistole des Vaters mit in die Schule. Ohne Munition. Er wollte die gegen ein Gewehr tauschen. Den Ärger zuhause kann man sich vorstellen. Vor dem Hang des Sohnes zur Kunst fürchtete sich der Vater, galten Künstler damals doch „als Bürgerschreck mit einem Bein im Kriminellen“, wie sich Wurm erinnert.

Biographisches schwingt in seinen Werken sicher immer mit, vor allem in seinem „Narrow House“, einer klaustrophobisch-beengten Schrumpfversion seines Elternhauses. Aber in diesen Skulpturen geht es im vor allem um den Zeitfaktor, um die Idee, eine Skulptur aufzuführen. Aber nicht als spaßiges Unterhaltungsangebot, sondern als eine Form der „Meditation“, wie Wurm es nennt. Als Nachdenken über die Dinge, die zum Ausgangspunkt für herausfordernde Handlungen werden, wenn wir uns etwa mitten in der Ausstellung auf Tennisbälle legen sollen.

Konsum und Gurken als Selbstportraits

Solche Neudefinitionen von Skulpturen bestimmen durchgehend Wurms Werk. Ende der 1990er Jahre wollte er Abbilder von Menschen schaffen, „aber ohne ins Portraithafte zu geraten“, wie er sagt. Also reduzierte er sie kurzerhand auf Taschen oder Schuhe, ausgestattet mit überlangen Beinen – als Portraits unseres Konsumverhaltens, ein wiederkehrendes Thema in Wurms Werk. Überraschend erfolgreich ist seine Serie der in Originalgröße abgegossenen und anschließend handbemalten Essiggurken. Im Titel erklärt er sie als „Selbstportraits“ – die Anspielung an das männliche Geschlechtsorgan ist durchaus gewollt.

Lustig?

Manche reagieren auf Wurms Skulpturen mit lautem Lachen. Aber eigentlich sei sein Werk gar nicht lustig, betont er im Gespräch. „Mir geht es darum, von der Seite auf die Realität zu blicken, von der dunklen Seite.“ Humor sei nicht das Mittel, sondern das Resultat. Das Mittel sei seine Perspektive des Absurden, des Paradoxen. Das trifft besonders auf die Serie der „Fat“-Objekte zu, die er neuerdings in „Big“ umbenannt hat – einem Museum in England war die Nähe zum ´body shaming´ zu heikel. Was er auch einsehe, wie er erzählt. Er nennt sie „Performative Skulpturen“, der knallrote, übergroße, monströs aufgeblasene Porsche etwa. Das elegante Design ist durch die voluminösen Erweiterungen so deformiert, dass die Autofirma Anfangs gar nicht glücklich war über das Kunstwerk. Und wohl auch nicht über die darin enthaltene Anspielung auf Gier und Überfluss.

Erwin Wurms Perspektive des Absurden

In solchen Skulpturen nimmt Wurm die Formulierung von ´fett´ für PS-starke Angeber-Autos wörtlich. In einer anderen Serie lässt er berühmte Museumsbauten schmelzen oder auch Dinge wie eine Schule schrumpfen. In der Albertina Modern steht ein extrem schmales Haus. Wir können es betreten, müssen uns bücken und finden uns in einem Mini-Klassenzimmer mit Original-Schautafeln an den Wänden wieder. Sie zeigen längst überholtes Wissen von Gestern, wir fühlen uns darin fast erdrückt von der Enge der Schule – auch im übertragenen Sinn. Für ihn steht das „Skulpturale immer im Verhältnis zum Sozialen, aus einer Perspektive des Absurden“, erklärt er. Auf die Fassade durften Besucher Anfangs ihre Namen schreiben, „wir sind ja alle zur Schule gegangen“. Aber dann standen dort plötzlich politische Botschaften. Seither ist diese Mitmachmöglichkeit gestoppt.

Haut & Hülle

In seinen neuesten Serien ist Wurm wieder beim Thema Hülle, Haut angekommen. Mitten im Raum stehen lebensgroße Kleidungen, die Menschen darin fehlen. „Substitutes“ nennt Wurm diese Serie entindividualisierter, kopfloser Figuren, die nur mehr über ihre Kleidung existieren. Radikal reduziert sehen wir in der „Skin“-Serie fast zweidimensional wirkende, bandartige Umrissformen. Es sind lebensgroße Fragmente von Körpern, eingefrorene Bewegungen, nicht mehr im Medium der Fotografie, sondern als in Aluminium gegossene Momente. Als grandioses Schlussfinale steht eine riesige, silberne Figur im halbrunden Raum: Frei nach Auguste Rodins „Monument for Balsac“ schuf Wurm eine Figur, in der die Menschen im Chaos der Kleidung verschwinden. Auch hier gilt das zentrale Credo von Wurms Bildhauerei: Wenn sich das Volumen ändert, ändert sich der Inhalt.

veröffentlicht in: NZZ, 6.1.2025
Erwin Wurm – Die Retrospektive zum 70. Geburtstag. Albertina Modern, 13.9.2024-7.3.2025