Gehirn in Kunst & Wissenschaft – Bundeskunsthalle Bonn

23. Feb. 2022 in Ausstellungen

Ausstellungsansicht, Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft, Foto: P. P. Weiler, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Ausstellungsansicht, Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft, Foto: P. P. Weiler, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Die Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen, ist kein Fakt, sondern unsere ureigene Schöpfung. Auf der Grundlage neuronaler Prozesse ist sie das Resultat eines vernetzten Interpretationsprozesses. Das Gehirn liefert dafür die Muster. Aber was ist das, unser Gehirn? Seit Jahrtausenden rätseln die Menschen darüber, Aristoteles etwa erklärte diese Masse in unserem Kopf als Kühlanlage für unser Herz. Heute wissen wir, das hier dank der 86 Milliarden Nervenzellen unser Denken, Handeln und Fühlen gesteuert wird. Eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn unternimmt dazu jetzt eine bildgewaltige Reise. So „vielstimmig wie möglich“, wie es Direktorin Eva Kraus beschreibt, werden wir mit rund 300 Werken von der Antike bis heute durch die Kulturgeschichte und wissenschaftliche Erforschung des Gehirns geführt. Fünf große Fragen helfen dabei: Wie schaut die Anatomie des Hirns aus? Welche Funktionen und Prozesse finden dort statt? Gehören Körper und Geist zusammen? Wie kommt die Welt in meinen Kopf? Soll ich mein Gehirn optimieren?

Ausstellungsansicht mit Asta Gröting, Ghost, 2015. "Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft", Foto: P. P. Weiler, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH.

Ausstellungsansicht mit Asta Gröting, Ghost, 2015. „Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft“, Foto: P. P. Weiler, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH.

Die wissenschaftlichen Antworten darauf füllen ganze Bibliotheken – kann das in eine Kunstausstellung passen? Es kann, allerdings dient die Kunst dabei vor allem als Veranschaulichung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn man diese Indienstnahme einmal akzeptiert hat, entfaltet die Ausstellung ein geschichtenreiches Wechselspiel zwischen Fakten und Fantasie. Dafür entschied sich das dreiköpfige Kuratorenteam, dem auch der Hirnforscher John-Dylan Haynes angehört, für einen Rundgang mit 32 Stichworten, von Epilepsie über das Unbewusste, Depressionen, Neuro-Ästhetik bis zu Cyborgs. Am Anfang stehen die „Meilensteine der Hirnforschung“: Erste archäologische Nachweise für Operationen am Gehirn finden sich bereits in der Mittelsteinzeit (um 9600-4300 v.Chr.), aus Ägypten um 1600 v.Chr. stammt die erste Beschreibung des Gehirns. Verortete Aristoteles (384-322 v. Chr.) den Sitz von Geist, Seele und auch Emotionen im Herzen, so vermutete der griechische Arzt und Anatom Erasistratos (305-250 v. Chr.) die Seele im Gehirn. Spätestens seit Rene Descartes (1596-1650) gilt das Gehirn als zentrales Organ, das immer besser erforscht wird. 2014 ging der Medizin-Nobelpreis an Forscher, die unsere Orientierung im Raum in Gehirnzellen identifizierten.

Ausstellungsansicht, Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft, Foto: P. P. Weiler, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Ausstellungsansicht, Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft, Foto: P. P. Weiler, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Danach startet der Rundgang durch unser zelluläres Universum: Auf rosa gefärbten Wänden fassen kurze Texte in weißen Sprechblasen die Erkenntnisse zusammen, veranschaulicht mit wissenschaftlichen Zeichnungen, Modelle, Werkzeugen wie dem Schädelbohrer, mit Gemälden und Werken zeitgenössischer Künstler:innen. Großartig die Originalzeichnungen von 1901-´10 des Neuroanatoms Korbinian Brodman, die einen Querschnitt durch die rechte Hemisphäre eines Gehirns mit handschriftlichen Notizen zum Bauplan zeigen. Oder Pieter van Gunsts Anatomische Untersuchungen des Kopfes in seinen akribischen Zeichnungen von 1685. Humorvoll dagegen imaginiert Maria Lassnig ihre „Gehirnströme“ 1995 als mit wenigen Strichen angedeutete, frei flotierende Zusammenhänge, und ihre „Inspiration“, die als grüner Alien über zwei Liegenden schwebt.

26.01.2022, Bonn. Deutschland. Ausstellungsdokumentation "Das Gehirn" Bundeskunsthalle. Zapfenstreich; Bendlerblock; Peter-Paul Weiler, M +4915774720112, berlin-event-foto.de

26.01.2022, Bonn. Deutschland. Ausstellungsdokumentation „Das Gehirn“ Bundeskunsthalle. Zapfenstreich; Bendlerblock; Peter-Paul Weiler, M +4915774720112, berlin-event-foto.de

Ob Peter Koglers Zeichnungen der markanten Windungen im Gehirn, Brigit Diekers Gehirnnachbauten aus Leder, Kleidung und Haaren oder Isa Genzkens CT-Aufnahmen ihres Kopfes als Selbstportrait – der Blick ins Innere unseres Hirns dient Künstler:innen immer wieder als Bildmotiv. Erkenntnisse werden darüber allerdings nicht vermittelt, dafür merkwürdige Bildvorstellungen wie der extrem langgezogene Schädel in Wilhelm Lembrucks „Denker“ (1918) oder Michael Sailstorfers „Brain“, ein Knäuel aus 35 Meter Seil (2021). Im dritten Kapitel steht dann die Seele zur Diskussion – ein spirituell konnotierter Begriff, der in den Wissenschaft durch den Begriff des Bewusstsein ersetzt ist, im Sinne eines Erlebens geistiger Prozesse. Hier sehen wir den Schädel von Descartes und daneben Asta Grötings bewegende Skulptur „Ghosts“: lebensgroße Abdrucke ihrer Familienmitglieder, die sich auf dem Boden in ihre Schatten aufzulösen scheinen. Am Ende des Rundgangs kommen Manipulationen durch Drogen, Medizin, Technologie in den Blick, Thomas Zipps Installation „M.E.T.H.“ als Mahnmal gegen die zerstörerische Droge Crystal Meth bis zu Lu Yangs grotesken Videos, in denen Wissenschaft und Religion flirrend-bunte Bilder ergeben.
Es ist eine intensive Ausstellung, die einen komprimierten Überblick über den Stand unseres Wissens vermittelt. Bei jeder Station geht es dabei um uns selbst, unsere Wahrnehmungen, unseren Körper, unser Ich. Mit unserem Hirn betrachten wir das Gehirn – eine Selbstbegegnung, bei der die Werke der Künstler:innen dann doch weit mehr sind als Bebilderungen. Es sind willkommene Fluchten ins Imaginäre.

veröffentlicht in: Die Presse,
Das Gehirn in Kunst & Wissenschaft, Bundeskunsthalle Bonn, 28.1.-26.6.2022

Ausstellungsansicht, Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft, Foto: P. P. Weiler, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Ausstellungsansicht, Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft, Foto: P. P. Weiler, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH