James Ensor : Meister der Masken und Abgründe

09. Jan. 2024 in Ausstellungen

Het James Ensorhuis 5 © Toerisme Oostende vzw – James Ensorhuis – Nick Decombel Fotografie

James Ensor gilt als berühmtester Künstler Belgiens, als Maler von Masken und menschlichen Abgründen. Auch das Wiener Belvedere besitzt ein Werk, das jetzt in Ostende eine überraschende Verdoppelung erhält und ein Rätsel aufgibt.

Schwarzes Jacket. Schwarze Fliege. Schwarze Schuhe, im Winter mit schwarzem Mantel. So bekleidet, schlendert James Ensor stolz durch Ostende. Es ist Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts. Das kleine Städtchen an Belgiens Nordseeküste gilt als Europas Perle der Seebäder. Intellektuelle und wohlhabende Bürger promenieren entlang des Strandes. Manchmal hält der belgische König Hof.

Wanderndes Denkmal

Hier wird 1860 James Ensor geboren, hier lebt und malt er sein Leben lang bis zu seinem Tod 1949. Wenn er durch die Straßen auf dem Weg zu seinem täglichen Besuch im Cafe Falstaff schlendert, um dort seinen Scotch zu trinken, muss er eine auffallende Erscheinung gewesen sein zwischen den illustren Kurgästen und den einheimischen Fischern. Sie nannten ihn ein „wanderndes Denkmal“.

2024: James Ensor-Jahr

James Ensor Erlebnis-Zentrum. Het James Ensorhuis 8 © Toerisme Oostende vzw – James Ensorhuis – Nick Decombel Fotografie

Heute gilt James Ensor als einer der berühmtesten Künstler Belgiens. Seine ikonischen Bilder mit grotesken Masken und fratzenhafte Bildern hängen in den wichtigsten Museen der Welt. 2024 steht Belgien ein Jahr lang im Zeichen des Malers, mit Veranstaltungen in Antwerpen, Brüssel und Ostende – und der brandneuen „Ostende City Walk“-App für die Ensor-Spurensuche. Manche der 13 Stationen leben nur noch von der Erinnerung, sein Stammcafe am Wappenplein 7 etwa ist heute ein kleines Shoppingcenter.

James Ensor Erlebnis-Zentrum in Ostende

Sein Geburtshaus ist Appartment-Burgen gewichen. Auch die Souveniershops seiner Mutter und seiner Tante, wo sie chinesische Fächer, exotische Muscheln und vor allem Masken verkauften, sind längst Vergangenheit. Das kleine Geschäft seines Onkels dagegen existiert noch – oder wieder. Es ist Teil des James Ensor-Erlebnis-Zentrums, mit dem Ostende seinen berühmtesten Sohn feiert. Auf vier Stockwerken kann man hier sein Werk kennenlernen, sieht ein Modell seines Ateliers, sein rekonstruiertes Wohnzimmer – alles ohne ein einziges Originalbild.

James Ensor in seinem Atelier. Fotografie ca. 1896/97. Wikipedia


Stattdessen begrüßt uns gleich im Eingang ein animiertes Wimmelbild des Meisters: Wir sehen ein Gewimmel von Menschen eng beisammen beim Bad im Meer – ein damals keineswegs selbstverständliches Vergnügen. Joseph Roth, der in Ostende gerne kurte, fasst es einmal prägnant zusammen: Er würde keinesfalls ins Meer gehen, schließlich würden Fische auch nicht ins Cafehaus gehen. Die Namen der Kurgäste sind übrigens in einem wöchentlich veröffentlichten Journal von 1871 bis 1914 mit Hotelgast-Listen überliefert.

Wimmelbild

Vielleicht findet man sogar einige der Prominenten auf dem Wimmelbild, das Ensor als bitterböses Sittenbild der damaligen Gesellschaft anlegt: beim Baden verlieren die Menschen hier ihre Würde. Da küssen sich zwei Gäste schamlos, vor einer Badekabine kackt ein Pferd. Dazwischen verstecken sich Selbstbildnisse des Maler, einmal sitzt er im geringelten Ganzkörperbadeanzug auf dem Dach einer Umkleidekabine und schaut wie ein Voyeur durch ein Fernglas auf das wilde Geschehen.

James Ensor, Skelett mit Staffelei, 1896, collectie KMSKA, Rik Klein Gotink, public domain


Solche Miniaturportraits sind typisch für den Maler, in 60 Werken ist er zu finden, 60 weitere Werken seien klare Selbstportraits, erklärt ein Führer beim Gang durch das Erlebniszentrum. Was hier unerwähnt bleibt: Ein wichtiger Schwerpunkt von Ensors Oeuvre neben den grotesken Maskenbildern sind Stillleben.

Das ursprünglich die Vergänglichkeit thematisierende Genre ist im späten 19. Jahrhundert ohne moralischen Anspruch zur reinen Dekoration für bürgerliche Wohnzimmer mutiert. Oft meisterlich gemalt, aber ohne inhaltlichen Anspruch. Museen mieden das Genre. Künstler dagegen schätzten die Möglichkeit, gänzlich befreit von interpretatorischen Ansprüchen malerische Experimente zu wagen.

James Ensor, The Intrige, 1890, collection KMSKA, photo: Hugo Maertens, public domain


Drei Mal dasselbe Stillleben?

Kaum einer geht dabei so weit wie Ensor, was bis zum 14. April 2024 im Mu.Zee in Ostende  beeindruckend zu sehen ist. In dem zum Museum umgebauten, ehemaligen Kaufhaus drängeln sich in einer höchst eigenwilligen Hängung, die ein Kurator beim Rundgang euphemistisch als „kühn“, ein anderer als „Übung in vergleichender Betrachtung“ umschreibt, Stillleben von 1830 bis 1930 dicht nebeneinander. Rund 100 Werke von Ensors Zeitgenossen treffen auf rund 50 von Ensor – darunter auch eine Leihgabe aus dem Wiener Belvedere.

Belvedere-Sammlungskurator Franz Smola begleitete das Werk – und war sichtlich überrascht. Offenbar existieren zwei weitere, nahezu identische Gemälde. Drei Mal sehen wir diesen blauen Flakon, roten Topf und den Fasan, dessen Kopf von der Tischkante herunterhängt. Wann entstanden diese Werke? Vom Belvedere auf 1910, von einer europäischen Privatbank auf 1880, vom Kunstmuseum Basel auf circa 1925 datiert, lägen 45 Jahre zwischen den drei Werken – sehr unwahrscheinlich, meint Smola. Der Pinselstrich deute auf eine schnelle Arbeitsweise und eine zeitliche Nähe.

James Ensor, Pierrot en skelet in een gele toga, 1893. Museum voor Schone Kunsten Gent. Foto Hugo Maertens.

Neue Bildsprache

Und auch die düstere Grundstimmung spricht gegen den langen Zeitraum. Ensor schafft in den Jahren 1890 bis 1910 eine gänzlich neue Bildsprache: Er verbindet die bürgerlichen, meist düsteren Stillleben mit den sonnigen, schmeichelnden Farben des Impressionismus bis Jugendstils. Und mischt ein neues Sujet dazu: unheimliche Masken und Fratzen, die vom Rand in das Geschehen oder sogar uns direkt anschauen.

Was in den Drillingen nur angedeutet ist, führt Ensor später zur Meisterschaft: Er versetzt die morbiden Stillleben vor grell-weiße Hintergründe, wählt für die Objekte pastellige Farbtönen, gerne mit zuckersüßem Rosa und bricht damit aus dem für Stillleben so typischen Dämmerlicht „ins Sonnenlicht“, wie es Smola bezeichnet.

Aber die fast zu schönen Farben können nicht verdecken, dass Ensor nicht nur in seinen berühmten Maskenbildern, sondern auch in den Stillleben das Unheimliche im Hintergrund thematisiert. In einer Zeit, als alles auf den schönen Schein ausgerichtet war, dämonisiert Ensor die menschliche Psyche und demaskiert die Gesellschaft. Und all das entstand in Ostende, das Ensor einmal als „Paradies für Maler, Göttin des heilen und isabellfarbenen Lichtes“ beschrieb.

veröffentlicht in: Die Presse, 4.1.2024