Liliane Lijn im MUMOK: von kinetischer Kunst zu Göttinnen

06. Dez. 2024 in Ausstellungen

Conjunction of Opposites: Woman of War and Lady of the Wild Things, 1983–86 Installation, zwei Mixed-Media-Performance-Skulpturen. Courtesy Liliane Lijn and Sylvia Kouvali, London / Piraeus Photo: Thierry Bal © Bildrecht, Wien 2024

Der 1939 geborenen US-Künstlerin Liliane Lijn richtet das Wiener MUMOK  jetzt die erste, längst überfällige Retrospektive aus – warum erst jetzt?

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dominierten Künstler die Kunstgeschichte. Denn die Männer scherten aus dem streng vorgegebenen Weg nicht aus: Wer dazugehören wollte, musste sich einfügen. Das gelang gut als Mitglied einer Gruppe, die gerne anhand von Manifesten radikale Neuerungen postulierte. Oder mit lautstarker Selbstinszenierung. Wer stattdessen eigenen Wegen folgte, blieb nahezu unsichtbar – und das betraf vor allem und viele Künstlerinnen.

Liliane Lijn in ihrer Ausstellung Arise Alive, MUMOK 2024 Photo: Georg Petermichl / mumok © Bildrecht, Wien 2024

Seit der Jahrtausendwende ändert sich dieses Prinzip. Immer mehr Künstlerinnen werden aus dem Hintergrund ins Scheinwerferlicht der Museen geholt. Gerade eröffnete im MUMOK eine weitere dieser Wiederentdeckungen: Liliane Lijn, geboren 1939 in New York City als Kind jüdischer Eltern. Es ist ihre erste Retrospektive überhaupt. Zuvor war die Ausstellung im Münchner Haus der Kunst zu sehen und wandert anschließend in die Tate St. Ives.

Ganz unsichtbar war Lijn bisher keineswegs. Aber den großen Durchbruch erhält sie erst jetzt. Dabei entspricht ihr Werdegang durchaus den gängigen Wegen: Sie studierte Ende der 1950er Jahre in Paris, wo sie in den Kreisen der Surrealisten verkehrte. 1961 heiratete sie den berühmten griechischen Künstler Takis, durch den sie zur kinetischen Kunst kam. Nach einigen Jahren in Griechenland zog sie 1966 nach London, wo sie heute noch lebt.

Kategorie-sprengende Kunst

Liliane Lijn Get Rid of Government Time, 1962 Letraset auf lackierter Metalltrommel, Kunststoff, lackiertes Metall, Motor, Text aus einem Gedicht von Nazli Nour. Courtesy Stephen Weiss, London Photo: Richard Wilding © Bildrecht, Wien 2024

Aber was immer sie schuf, es war Kategorie-sprengend. Anders als Takis stellte Lijn nicht unsichtbare Kräfte oder wie andere Vertreter dieser Richtung psychodelische Effekte in den Vordergrund. Lijn nutzte die Idee der bewegten Skulptur zur Auflösung von fixen Formen, Anfangs von Linien, dann Wörter, dann ganze Gedichte. So schrieb sie etwa lyrische Zeilen auf rotierende Ölfilter. „Worte werden Vibration, aber die Bedeutung bleibt immer erhalten“, erklärt sie bei einem Rundgang durch ihre MUMOK-Personale. In ihrem Werk „Lost Koan“ von 2007 übersetzt sie ein Gedicht in Licht, das auf einem großen, freistehenden Kegel zu tanzenden Linien wird.

In den Jahrzehnten dazwischen entwickelte sie immer neue Werkkomplexe. In den 1970ern, als die vorherrschende Tendenz in der Kunst minimalistisch, konzeptuell und politisch war, begann sie mit ihren farbigen, poetisch-emotionalen Zeichnungen. In Serien wie „Lunar Traces“ wollte sie „eine glühende, brodelnde Haut schaffen“, die Farben „zu einem Kontinuum werden lassen“, wie sie es nennt. Das führte in den 1980ern zu einer surrealistisch-expressiven Bildsprache.

Liliane Lijn Liquid Reflections/ Series 2 (32″), 1968 Acryltrommel mit Wasser, Drehteller und Projektorlampe, Acrylkugeln. Courtesy Liliane Lijn and Sylvia Kouvali, London / Piraeus Photo: Stephen Weiss © Bildrecht, Wien 2024

Auch damit lag sie quer zum Zeitgeist, waren doch Materialfetischismus und Wildheit angesagt. In ihrer heute so aktuell wirkenden Doppel-Skulptur „Woman of War“ und „Lady of the Wild Things“ von 1986 vereint sie Surrealismus und Wissenschaft, lässt Mythologie und Feminismus einfließen. Ausgestellt auf der Biennale Venedig war das wohl trotzdem zu früh für die meisten Torwächter jenes Jahrzehnts. Im MUMOK sind die beiden überlebensgroßen, miteinander kommunizierenden, wie Techno-Göttinnen aussehenden Skulpturen jetzt großartig inszeniert. Man achte dort auf die Schatten an der Decke, in denen die Charaktere der beiden Figuren als aggressives und als empfangendes Wesen noch einmal neue, spukhafte Formen annehmen. „Ich möchte die Realität von innen nach außen kehren, das Material an seine Grenzen bringen, damit es Qualitäten entgegengesetzter Natur zeigt“, sagte sie 1981 einmal.

Liliane Lijn Four Figures of Light, 1978. Installation, optisches Glaskörper-Prisma, Federstahl verchromt mit Prismen, verchromter perforierter Stahl, dreieckiger Pfosten, runder Stahlfuß. Courtesy Liliane Lijn and Sylvia Kouvali, London / Piraeus Photo: Georg Petermichl / mumok, © Bildrecht, Wien 2024

Aspekte des Weibliche, die Braut, die Mutter, Medusa, Göttinnen – das sind Themen, die Lijn seit den 1980ern unbeirrt interessieren. Dass manche ihrer Werke in der letzten Jahren wie „Sweet Solar-Dreams“ mit einem Kopf auf rosa Kissen fast kitschig wirken, ist heute kein Vergehen mehr. Im Gegenteil, rosa ist in Kunst bis zu Filmen salonfähig. Der sanft gebettete Kopf spricht zu uns von Träumen, es sei eine „Erforschung ihres Unbewussten“, erklärt sie.

Liliane Lijn Electric Bride, 1989, Aluminium, Stahl, Hahnenfedern, Elmflex Glimmer, Messing, mundgeblasenes Glas. Courtesy Liliane Lijn and Sylvia Kouvali, London / Piraeus. Photo: Georg Petermichl / mumok © Bildrecht, Wien 2024

Ihre übergroße „Electric Bride“-Skulptur könnte heute entstanden sein, ist aber tatsächlich von 1989: Der Kopf besteht aus mundgeblasenem Glas mit Stroboskoplicht, der Körper aus Schichten mineralischen Mikanits. Eingeschlossen ist die Braut in einen Stahlkäfig, mit dem sie über neun rotglühende Stromdrähte verbunden ist. Eine Stimme flüstert ein Gedicht über den Mythos der sumerischen Göttin Inanna und deren Abstieg in die Unterwelt. Es sei eine „Begegnung mit der Sterblichkeit“ und „das Nachgeben angesichts ihrer überwältigenden Macht, um dann als Licht wieder zu erscheinen“, erklärt Lijn. Eine „Göttin unserer Zeit“ nennt sie es – aktueller kann Kunst heute kaum sein.

veröffentlicht in: Die Presse, 25.11.2024
MUMOK Wien, Liliane Lijn, 15.11.2024-4.5.2025