„Wir sind alle sterblich. Unsere Existenz ist fragil – das verbindet uns alle.“ Mit dieser Einsicht empfing uns Sam Bardaouil zur Eröffnung der 16. Biennale de Lyon. Zusammen mit Till Fellrath kuratiert der gebürtige Libanese die heurige Ausgabe von Frankreichs wichtigster Ausstellung, der sie den Titel „Manifest der Fragilität“ geben. Der Begriff beschreibt so treffend wie kaum ein anderer den Zustand unserer Erde, unsere Unsicherheiten, unsere Ängste, die Zerbrechlichkeit allen Lebens. Aber können Künstler Endlichkeit bildlich umsetzen, ohne uns in tiefe Ausweglosigkeit zu stürzen? In Lyon sehen wir: Ja, können sie! Denn die Lyon Biennale zeigt auf einem geschichtenreichen, epochenübergreifenden Parcours mit 88 Künstlern an 13 Orten nicht nur die Zerbrechlichkeit des Lebens, sondern auch das Ziel einer gemeinsamen Zukunft. Dafür mischen die Kuratoren immer wieder historische Gemälde, Statuen bis zu römischen Steinen wie Stimmen aus der Vergangenheit dazu.
Hauptort der Biennale de Lyon ist die 29.000 Quadratmeter große Halle der ehemaligen Maschinenfabrik Fagor, wo 53 Beiträge eine eindringliche Stimmung mit oft dystopischen, düsteren, aber auch humorvollen Beiträgen schaffen. Wie ein Statement erscheint hier Philipp Timischls Beitrag, der ein abstraktes und ein figuratives Bild auf eine Monitorwand montiert: die statischen Werke streiten sich vor einem Wust digitaler Animationen wortreich über ihren Status und die Macht von Bildsprachen. Großartig die filigrane, so harmlos dekorativ erscheinende Holzstruktur von Nicolas Daubanes, die als Hülle für den Nachbau eines Gerichtssaals mit historischen Tonaufnahmen und Dokumenten dient. In dem Militärgericht in Montluc wurden in den 1950er Jahren während des Algerienkrieges Menschen zum Tode verurteilt, wir sind aufgefordert, die Legitimität des Gerichts zu befragen. Markus Schinwald dagegen thematisiert in seinem als Panorama angelegten Raum den Verlust der Bilder. Wir stehen mittendrin, rundherum lassen Bildstörungen die Bildmotive verschwinden. Immer wieder sehen wir solch emotionalen und bildstarken Werke, sehen Geschichten zu Fragilität, aber auch zu Widerstand, wenn etwa die polnische Künstlerin Marta Gornicka einen Migranten-Chor Teile des deutschen Grundgesetztes wütend vortragen lässt: Alle Menschen sind gleich. Eigentlich.
Im Museum MAC Lyon inszenieren die Kuratoren dann mit Mengen kleinerer Werke sieben bisweilen allzu dicht vollgepackte Kapitel zu Fragilität. Ausgangspunkt ihrer Erzählungen ist hier die Verbindung Lyon – Beirut: beide Städte verbindet die Seidenweberei, die in Frankreich begann und von französischen Geschäftsleuten in den Libanon exportiert wurde. Als Sinnbild dafür erzählen Fellrath & Bardaouil von Louise Brunet, eine französische Seidenarbeiterin, die 1834 in Lyon eine Revolte gegen schlechte Arbeitsbedingungen begann, ins Gefängnis kam und nach ihrer Entlassung als einzige Zukunft den Weg nach Beirut antrat, um dort wieder in einer Seidenweberei zu arbeiten – und wieder gegen die Arbeitsbedingungen zu protestieren. Ihre Spur verliert sich zuletzt im Gefängnis dort. Ein Geschichte von Widerstand & Endlichkeit, aber so ganz fügt sich Louise Brunet nicht in die Biennale ein, auch wenn eines der Kapitell im MAC die „Fragilität der Arbeit“ thematisiert. In den unteren Etagen des MAC ist zugleich auch die bereits in Berlin gezeigte, von dem Kuratorenduo mit viel kunsthistorischem Wissen ausgearbeitete Ausstellung „The Golden Sixties“ zur Kunst in Beirut zu sehen.
Der intensivste Ort dieser an beeindruckenden Werken reichen16. Biennale de Lyon aber ist das verwahrloste Museum Guimet. Im 17. Jahrhundert ein Kuriositätenkabinett gebaut, kurzzeitig ein Eispalast, dann das Naturhistorische Museum Guimet, schloss das Haus 2007 und verfällt seither. Jetzt führt uns hier ein grandioser Pfad zu den Werken von 19 Biennale-Künstlern. Wir werden empfangen von Clément Cogitores fünfminütigen Videoloop „Morgestraich“: Trommelnde, monsterhafte Maskenträger des Basler Karnevals mit Lampen auf dem Kopf kommen uns unermüdlich entgegen – Vorboten einer anderen Welt. Vorbei an den digital generierten 3-D-Dämonen von kennedy + swan, die über menschliche Überheblichkeit philosophieren, den bizarren Keramikfiguren von Nicki Green, gehen wir durch verrottete Räume, niedrige Keller bis in einen einst prachtvollen großen Saal. Hier stand wohl damals die Eislaufbahn. Oben auf der Galerie füllt Lucile Boiron die Wandvitrinen mit surrealen Körperteilen aus Glas und bedrucktem Plastik, die aus den offenen Türen quellen.
Unten scheint die Natur den Raum übernommen zu haben. Statt historischen Schaustücken stecken in den riesigen, zu Türmen aufgestapelten Vitrinen vertrocknete Büsche und kleine Bäume, tote Insekten und Knochen. Unterbrochen wird diese apokalyptische Welt von digitalen Animationen, mit denen uns Ugo Schiavi in gespenstische Welten entführt. Hier finden Natur und Kultur, Fragen des Konservierens und des Chaos, des Sammeln und der Unmöglichkeit des Bewahrens zusammen, hier im Museum Guimet findet das „Manifest der Fragilität“ in sinnlichen, betörenden und zugleich politischen Bildern seinen Höhepunkt.
16. Lyon Biennale, 14.9.-31.12.2022
veröffentlicht in: Die Presse, 21.9.2022