Berühmt war Picasso. Aber beliebt war Marc Chagall. Jetzt zeigt die Albertina in Wien eine großartige, umfassende Personale, wie stark sein Werk mit seiner Herkunft verbunden ist.
In den 1970er Jahren gab es kaum ein bürgerliches Wohnzimmer, in dem nicht Marc Chagalls Druckgraphiken hingen. Damals ganz demokratisch, gab es die signierten Blätter für kleines Geld im Kaufhof zu kaufen. In intensiven Farben schwebten in seinen Werken Kühe, Geigen und Engel durch die Luft. Ohne sich um die Gesetze der Perspektive zu kümmern, fächerte er seine oft verzerrten Bildräume prismenhaft auf, legte die Häuser winzig, die Tiere übergroß an. Offenbar entsprach diese darstellerische Freiheit damals dem Lebensgefühl. Dass die Bildmotive auf das Engste mit Chagalls Herkunft verbunden sind, war damals kaum jemanden bewusst. Jetzt zeigt die Albertina in Wien eine groß angelegte Retrospektive mit 100 zentralen Werken – und lässt einen vertieften Blick zu.
Ärmliche Herkunft
1887 in Witebsk im heutigen Belarus geborene, wächst Chagall in einer kleinen, ärmlichen jüdisch-chassidischen Gemeinschaft als ältestes von neun Kindern auf. Mit 13 Jahren besucht er eine private Malschule, später geht er zum Kunststudium nach Sankt Petersburg – was Juden damals verboten war. Er kommt kurzzeitig ins Gefängnis. Mit einer gefälschten Arbeitserlaubnis kann er die Ausbildung fortsetzen. 1911 reist er dank des Verkaufs von zwei Bildern und einem kleinen Stipendium eines Mäzens nach Paris. Später erklärt er einmal: „Meine Kunst braucht Paris so nötig wie ein Baum Wasser.“
Immer wieder die Liebe, die platonische
In Paris lernt er die Avantgarden kennen, besonders die expressiven Farben der Fauves beeindrucken ihn. Ihre Ablehnung repräsentativer Genauigkeit entspricht exakt Chagalls Idee. Auf seine ganz eigene Art bleibt er Zeit seines Lebens der Gegenständlichkeit verbunden. Immer wieder tauchen Häuser seines Heimatdorfs in den Bildern auf, zu den zentralen Motiven gehören Kühe, Ziegen, eine Geige, Brautpaare. Vieles ist symbolisch aufgeladen, die Geige als Sinnbild für die Seele, die Kuh für ersehnte Heimat, der Engel für die Verkündung von Hoffnung, der Fisch als Referenz an seinen Vater, der in einer Heringsfabrik arbeitete. Seine Themen umkreisen Geburt und Mutterschaft, Zirkus, Bibel, Tod. Und immer wieder die Liebe, nicht die sexuelle, sondern als höchstes Gut, als Symbol der Überwindung und Versöhnung von Gegensätzen. „In der Kunst wie im Leben ist alles möglich, wenn es auf Liebe gegründet ist“, sagte er einmal.
1914 kehrt er für einen kurzen Besuch nach Witebsk zurück. Wegen des 1. Weltkriegs kann er erst 1922 wieder nach Paris und muss dort feststellen, dass all seine Bilder verkauft oder verschollen sind. Er beginnt, einige aus dem Gedächtnis erneut zu malen. In den 1920ern wird Chagall zu dem erfolgreichsten Künstler seiner Zeit – was mit dem Beginn des Dritten Reichs schlagartig endet. Chagall gilt als entartet, seine Bilder werden öffentlich verbrannt. 1941 flieht er nach New York, wo er nie heimisch wird. 1948 kehrt er zurück nach Paris und zieht bald an die Cote d´Azur, wo er 98jährig 1985 stirbt.
Hier malt er in einer dunklen, fensterlosen Garage. Nicht aus Geldmangel. Seine Bilder und die Flut an Druckgraphiken haben ihn wohlhabend werden lassen. Aber Chagall will die inneren Bilder malen. Er vertraut nicht dem Sehsinn, will nicht das Sichtbare wiedergeben, sondern seine Empfindungen. Das entspricht seinem Glauben. Anders als seine jüdischen Kollegen wie Modigliani oder Soutine verbirgt er seine Herkunft nicht, sondern erhebt sie zum Thema. Chagall: „Wenn ein Maler Jude ist und das Leben malt, wie könnte er sich gegen jüdische Elemente in seinem Werk wehren? Aber wenn er ein guter Maler ist, besitzt das Bild viel mehr. Das jüdische Element ist zwar da, aber seine Kunst will universale Geltung erreichen.“
Marc Chagalls religiöse Herkunft
Sein Rückgriff auf Innenwelten entspricht nicht nur seinem Glauben, sondern auch den damaligen Avantgarden, die er in einzigartiger Weise in seinen Werken zusammenbringt. Von den Fauves lernt er die Farbigkeit kennen, und die Freude an Alltagsszene. Die Expressionisten erkunden die inneren Welten, wählen persönliche bis religiöse Themen. Chagall verbindet beide Ismen perfekt, setzt anders als die Kubisten auf eine farbgewaltige Poesie statt auf Formzertrümmerung, und wehrt sich gleich noch dagegen, als Ahnherr des Surrealismus gesehen zu werden. All das ist eng mit seiner religiösen Herkunft verbunden – auch die Art der Darstellung, die auf einem tiefliegenden Zweifel an einer visuell überprüfbaren Wirklichkeit basiert. Und doch sagt er einmal: „Nennt mich nicht einen Phantasten. Ich bin ein Realist.“
Manchmal nannte er seine Bilder „Dokumente“. Denn in all den schwebenden Tieren und Menschen, den kippenden Häuser und fliegenden Fische, den biblischen Szenen, Rabbis und Bettlern, jüdischen Friedhöfen und Synagogen schwingen immer seine konfliktreichen Erfahrungen mit. Dafür sind ihm die bisweilen düsteren Bildmotive und meist strahlenden Farben gleichermaßen Ausdrucksträger. Der Kontrast erzeugt eine merkwürdig melancholische Grundstimmung – vielleicht war es das, was das aufstrebende Bürgertum in den 1970er Jahren so faszinierte?
In der Albertina jedenfalls schließt Direktor Klaus-Albrecht Schröder mit dieser großartigen Retrospektive seine Reihe der Klassischen Moderne ab – übrigens ohne Leihgaben aus Russland. Die waren Anfangs fix eingeplant, wurden aber aufgrund des Russischen Angriffskriegs storniert. „Spürt man das in der Qualität?“, fragt Schröder und antwortet klar „nein“. Im Budget dagegen deutlich, denn jetzt sei die Leihgabenliste und damit die Transportkosten gewaltig geworden. Die Ausstellung gibt ihm Recht.
Albertina Wien, bis 2.2.2025
veröffentlicht in: Die Presse, 27.9.2024