Roy Lichtenstein in der Albertina

02. Apr. 2024 in Ausstellungen

Roy Lichtensteinn, Spray, 1962. Öl und Bleistift auf Leinwand. Staatsgalerie Stuttgart, erworben mit Lotto-Mitteln 1977 © Estate of Roy Lichtenstein/Bildrecht, Wien 2024. Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgar

Roy Lichtenstein wurde 1923 geboren. Dieses – verzögerte – Jubiläum und eine großzügige Schenkung nimmt die  Albertina in Wien zum Anlass für eine große Retrospektive. Zu Gast waren auch seine Witwe Dorothy und sein Sohn Mitchell.

Es muss wie ein Traum gewesen sein: Nach Jahren der Arbeit im Atelier, der Jobs als technischer Zeichner, Werbegraphiker und Kunstlehrer wird Roy Lichtenstein 1961 über Nacht plötzlich berühmt. Immer wieder hatten Galerien seine Werke, sogar seine von Comics inspirierten, mit den heute ikonischen Punkten und schwarzen Umrisslinien gemalten Bilder abgelehnt. Der New Yorker Galerist Leo Castelli dann erkannte das Potential. Lichtensteins erste Ausstellung war sofort ausverkauft. Aber ´berühmt´ ist in jener Zeit ein relativer Wert. „Eigentlich kannte niemand meinen Vater – nur der Kunstlehrer“, erinnert sich Mitchell Wilson Lichtenstein. Er wurde 1956 geboren. Wie sein 1954 geborener Bruder David stammt auch er aus der ersten Ehe mit Isabel Wilson, die 1968 geschieden wurde.

Mitchell Wilson Lichtenstein, März 2024, Albertina. Foto: SBV

Jetzt ist Mitchell zur großen Retrospektive seines Vaters in Wien angereist. Auf dem Weg hinunter in die Ausstellungshallen sieht man ihn auf einem frühen Foto von 1964 zusammen mit seinem Bruder. Sie liegen zwischen Mengen von Comicheften auf dem Boden und lesen. Im Hintergrund malt der Vater gerade an einem Bild. „Das Foto ist gestellt, wir waren selten in seinem Atelier“, erinnert sich Mitchell. Aber es sei sehr bewegend, jetzt die vielen Werke in Wien anlässlich des 100. Geburtstags seines Vaters zu sehen.

Roy Lichtenstein Skulpturen als Geschenk an die Albertina

Geboren wurde Roy Lichtenstein zwar im Oktober 1923, aber die Verzögerung des Jubliläums sei verziehen. Denn der zweite Anlass für die Ausstellung währt dafür umso länger: Die von Lichtensteins zweiter Frau Dorothy 1999 zwei Jahre nach Roys Tod gegründete Foundation schenkte dem Wiener Museum gerade ein großes Konvolut. „Wir haben schon vor einigen Jahren 30 Druckgraphiken erhalten. Jetzt sind noch Skulpturen, Skulpturmodelle und -zeichnungen dazugekommen“, freut sich Albertina-Direktor Klaus-Albrecht Schröder. „Roy Lichtensteins Skulpturen sind absolut unterschätzt“, betont er.

Roy Lichtenstein, Wir standen langsam auf, 1964. Öl und Acryl auf Leinwand. MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST, Frankfurt, Ehemalige Sammlung Karl Ströher, Darmstadt (DE) © Estate of Roy Lichtenstein/Bildrecht, Wien 2024

Es seien Werke im Wert von 40 Millionen Euro. Eigentlich sei ein anderes Museum dafür geplant gewesen. Aber bei einem „sehr netten Mittagessen“ in Wien, erinnert sich der Co-Gründer der Foundation Jack Cowart, habe er sich umentschieden. „Ich habe damals blitzschnell reagiert und Jack einen Standort nah bei Wien vorgeschlagen“, bestätigt Schröder den undogmatischen Entscheidungsprozess. Bald soll die Schenkung im ehemaligen Essl Museum in Klosterneuburg ausgestellt und zu Studienzwecken öffentlich sein. Dann wird das gut 15 Autominuten nördlich von Wien gelegene Haus bereits in Albertina Klosterneuburg umbenannt sein.

Absurdität seiner Zeit

Jetzt aber wird der Meister der Pop Art erst einmal mit der großen Schau im Haupthaus in Wien gefeiert. In nur 13 Monaten sei die Ausstellung entstanden, betont Schröder – jede Leihgabe aus den großen Museen der Welt sei ihnen bewilligt worden. Der Versicherungswert der rund 100 Gemälde, Skulpturen, Tapisserien und Zeichnungen von Roy Lichtenstein liege bei 200 Millionen Euro, sagt Kuratorin Gunhild Bauer – denn heute ist Lichtenstein ein weltberühmter Star. Er habe ein Gefühl für die Absurdität seiner Zeit gehabt, erklärt Schröder, für die radikale Kommerzialisierung, die die USA nach dem 2. Weltkrieg erlebte – und in der die Werbung die Bilder vorgab. Liebe, Leidenschaft oder Sorgen wurden damals nicht mehr in Portraits individualisiert, sondern als Stereotypen festgeschrieben – die Roy Lichtenstein in seinen Bildern aufgreift, wenn etwa die Träne überdimensional wird oder die Blondine schmachtend im Arm des Mannes liegt.

Witwe Dorothy in Wien

 

Dorothy Lichtenstein, Wien, März 2024. Foto: SBV

Über 5000 Werke schuf Roy Lichtenstein in seinem unverwechselbaren Stil. Um in Ruhe malen zu können, zog er 1970 mit seiner zweiten Frau Dorothy 1970 nach Southampton auf Long Island. Sie hatten sich 1964 kennengelernt, als die gerade 25jährige Dorothy Herzka in einer New Yorker Galerie arbeitete. Für die Ausstellung „American Supermarket“ sollte Roy Lichtenstein einen Einkaufssack signieren. 1968 heirateten sie. Seine Söhne wuchsen großteils bei der Mutter in Brooklyn auf.

Auch Dorothy ist zur großen Retrospektive nach Wien angereist. Wie Mitchell trägt auch sie unauffällige Kleidung, eine schlichte schwarze Hose, wenig Schmuck, nur kleine Goldketten, verborgen unter dem dunkelroten Schal. „Damals war Southampton noch nicht so ein begehrter Ferienort“, erinnert sie sich. Ihr Haus war ursprünglich eine Garage, aber mit einem Weg direkt zum Meer. Sie fuhren oft nach Manhattan, aber am liebsten habe Roy Lichtenstein auf Long Island in seinem Atelier gearbeitet. Ob abends beim Fernsehen oder beim Gang durch die Straßen, immer habe er neue Ideen gehabt. „Wir haben über seine Werke gesprochen, aber eigentlich war er damit ganz alleine beschäftigt. Er war sehr bestimmend“, sagt sie. War das Leben auf dem Land für sie nicht langweilig? Sie habe in einer kleinen Schule ausgeholfen – und nahm sich damals vor, die gesamte Enzyklopädie Britannica zu lesen, erzählt sie lachend. Das waren damals immerhin schon 24 Bände, mit Tausenden von Artikeln. Sie habe die Bücher auch gekauft – doch nie gelesen. Stattdessen sei sie viel gereist, „Roy wollte meist nur in seinem Atelier bleiben“. Zusammen besuchten sie Indien, allein bereiste sie Afrika.

Lichtensteins Kunstsammlung

Und gemeinsam kauften sie auch manchmal Kunst, „wir hatten Zeichnungen von Picasso, Matisse und von unseren Freunden, Warhol, Bob Rauschenberg, auch Ellsworth Kelly“. Aber sie hat alles weggegeben, vor zwei Jahren sogar Lichtensteins New Yorker Atelier in der Washington Street. „Wir haben nach seinem Tod 1996 dort lange alles belassen, wie es war. Aber ich wollte kein Roy Lichtenstein-Museum. Nur die von ihm erfundenen Staffeleien stehen noch. Jetzt gehört es dem Whitney Museum, dort findet Kurse des Indipendent Study Programm statt“, erklärt sie. Warum bleibt es nicht Teil der Foundation? „Die meisten Künstler-Stiftungen halten rund 25 Jahre“, erklärt Cowart. Der Catalogue Raisonne sei abgeschlossen, das Archiv online – „wir haben alles geteilt. Unser Job ist getan“, fasst er es zusammen. Sie wollen jetzt zurücktreten und den Nachlass für eine neue Generation öffnen. „Ich möchte alles loslassen“, sagt die heute 85jährige Dorothy.

Roy Lichtenstein, Zum 100. Geburtstag, 8.3.-14.7.2024, Albertina
veröffentlicht in: NZZ, 27.3.2024