Robert Longo: Zeichnungen wie Gemälde

16. Feb. 2025 in Ausstellungen

Robert Longo, Untitled (Copenhagen, February 14, 2015), 2017. 246,5 × 292,1 cm, Kohle auf aufgezogenem Papier. Privatsammlung aus Deutschland | © Robert Longo / Bildrecht, Wien 2024. Foto: Robert Longo Studio

Robert Longo gilt als Meister der Kohlezeichnungen. Wie einzigartig und aufwendig seine Werke sind, ist jetzt in der großen Personale in der Wiener Albertina zu sehen.

Als hätte sie etwas Schreckliches gesehen, sind Augen und Mund weit aufgerissen. „Statue der Marianne“ betitelt Robert Longo das Werk lapidar. Wir erfahren keine Details über die Figur oder das Ereignis. Aber etwas reizte den US-amerikanischen Künstler offenbar, diesen Kopf einer Skulptur in eine seiner gigantischen, hyperrealistischen Kohlezeichnungen zu transformieren. Gleich gegenüber sehen wir ein 153 x 304 Meter große Zeichnung eines Einschusslochs in einer Glasscheibe. Auch hier sind die Hintergründe nebensächlich. Bei beiden ist es offenbar die bedrohliche Stimmung, die zumindest ihre Hängung motiviert: Mit diesem Auftakt beginnt Robert Longos große Personale in der Wiener Albertina.

Waffen in den USA

48 Werke sind in den unterirdischen Hallen ausgestellt, darunter seine frühe „Men in the Cities“-Serie: Mit den Menschen in merkwürdigen, an Tanz oder vielleicht auch Stürze erinnernden Posen wurde er in den 1980ern schlagartig bekannt. Oder seine „Bodyhammer“-Serie von Pistolen Anfang der 1990er. Wir sehen direkt in die Mündung. Er habe sich vom FBI über die gängigsten Schusswaffen informieren lassen, erklärt Longo dazu in einem Videointerview. Und fügt an: „In den USA gibt es mehr Waffen als Menschen.“

Vollendungsgrad eines Gemäldes

Schon in diesen frühen Werken zeigen sich bis heute zentrale Kennzeichen: Longo wählt für seine Werke Kohlestifte – ein Material, dass wir eher mit Entwurfszeichnungen verbinden. Longo allerdings setzt damit sehr oft ein einziges Motiv zentral in Szene. Und dies vor allem im übergroßen Format. Alles drei Entscheidungen, die für das Medium Zeichnungen mehr als ungewöhnlich sind, was auch Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder betont: „Solche Zeichnungen, die den Vollendungsgrad eines Gemäldes aufweisen, sind in graphischen Sammlung selten.“ Er sieht den 1939 in Brooklyn geborenen Künstler als einen Wiederentdecker der „Ikonographie des Bildes“ nach der „bildfernen Zeit der Konzeptkunst“. Ausgebildet wurde Longo als Bildhauer. Bald fühlte er sich der „Picture Generation“ zugehörig, die wie Cindy Sherman oder David Salle Bilder des Massenmedien aufgriffen und sich künstlerisch aneigneten.

Robert Longos Epische Momenten

Robert Longo, Untitled (Face), 2001, 180,3 × 304,8 cm, Kohle auf aufgezogenem Papier. Sammlung Siegfried und Jutta Weishaupt | © Robert Longo / Bildrecht, Wien 2024. Foto: Robert Longo Studio

Longo zeichnet also Bilder von Bildern. Die Auswahl dafür sei ein „Balanceakt zwischen Dingen, die höchst persönlich und gleichzeitig sozial relevant sind“, erklärt Longo. Kaum ein Künstler hat so viele Interviews mit ausführlichen Erklärungen zu seinem Werk gegeben wie er, weswegen man ihn am besten selbst zu Worte kommen lässt. Seine Wellen etwa nennt er „psychologische Profile“, die Formen seien von dem beeinflusst, was tief darunter liege, „was wie Psychoanalyse klingt“. Zeichnungen seien „epische Momente“.

Robert Longo: „Image Police“

Nichts habe etwas Alltägliches, das interessiere ihn nicht, „ich bin an Höhepunkten interessiert“. Seine Bildauswahl sei eine „Reflexion der Welt, in der wir leben.“ Er sieht sich als „Image Police“, weil er das Wichtige heraushebt. Schröder dagegen sieht in den Bildern „Ereignisse oder Situationen, die einschneidend für unser Verständnis von Gesellschaft oder Geschichte“ seien. Und die wir kritisch konnotiert hätten, also Kriege, Katastrophen, Umgang mit Flüchtlingen.

Robert Longo, Untitled (Phantom Vessel), 2008, 270 × 480 cm, Kohle auf Papier. Hall Collection © Bildrecht, Wien 2024. Foto: Robert Longo

Mit seinen Riesenzeichnungen gibt Longo den flüchtigen Bildern der Medienwelt eine unerwartete Langlebigkeit. Die Motivwahl ist vor allem plakativ: Kampfflugzeuge, dargestellt wie ein Portrait; ein Tiger, dessen Kopf das gesamte Format ausfüllt; die Augen einer verschleierten Frau, die uns eindringlich anschauen. Alles im radikalen Close-Up eines kleinen Bildausschnitts. Oder Wälder. Sogar eine rote Rose ist dabei. Es ist das einzige farbige Werk in der Schau, Longos Bilderkosmos ist sonst durchweg schwarz-weiß. Er habe seiner Frau Rosen schenken wollen, erklärt er dazu. Die Bilder der Bomben seien von dem Schulunterricht seines Sohnes beeinflusst. Wellen, Rosen, Bomben seien Bilder von Dingen, die „im Moment ihres Passierens seien“. Eine Welle bricht, eine Rose blüht, eine Bombe explodiert. Es passiert immer wieder und immer genau dann, wenn wir es anschauen. Der deutsche Kunsthistoriker Max Imdahl beschrieb solche im Moment der Bildbetrachtung stattfindende Aktualität einmal als ´actual fact´ entgegen dem ´factual fact´ des Materials.

„Jede Zeichnung hat eine Strategie“

Die Fotovorlagen lässt Longo von seinem Studio-Team oft monatelang vorbereiten. Die Bilder werden abstrahiert, um Irrelevantes wegzulassen und das Wichtige herauszuarbeiten. Das Licht wird im radikalen Hell-Dunkel dramatisiert. „Jede Zeichnung hat eine Strategie“, erklärt er dazu. Einer der Höhepunkte der Wiener Ausstellung ist Longos Übersetzung eines mehrfarbigen Ölbildes von Jackson Pollock in eine schwarz-weiße Kohlezeichnung. Vorab hätten sie das Gemälde „wie eine Mörderszene analysiert“. Als wäre jeder Tropfen, jede Farbe ein Blutspritzer, beschreibt er es. Sie arbeiteten mit einer Farbfotografie des Werks, weil sie eine „hochsensibilisierte Übersetzungen“ machen wollten. Als erstes sei das Papier mit grauem Puder getönt worden. Dann kam schwarz, zuletzt das Ausradieren des Weiß – denn das Weiß in diesem Longo-Pollock ist das Weiß des Papiers. In der Zeichnung der „Gefangenen auf dem Flughafen Kandahar“ können wir kaum etwas erkennen, alles erscheint verschwommen. Das Pressebild wurde mit einer Infrarotkamera aufgenommen, was Longo mit Spuren von Radiergummis nachzeichnete. Das Schwarz ist in das Papier eingerieben, die Kohle schluckt das Licht.

Warum Großformate?

Robert Longo, Untitled (Raft at Sea), 2016–2017. 355,6 × 713,7 cm, Kohle auf aufgezogenem Papier. Sammlung Siegfried und Jutta Weishaupt | © Robert Longo / Bildrecht, Wien 2024. Foto: Robert Longo Studio

Aber warum müssen all diese Bilder so riesig sein? Zugegeben, es erzeugt eine enorme Präsenz. Auf das Tritychon „Floß auf dem Meer“ mit dem kleinen Boot voller Flüchtlingen inmitten eines wogenden Meeres gehen wir frontal zu. Mit jedem Schritt scheinen wir tiefer in das Wasser einzutauchen, direkt davorstehend sind wir von Wasser umgeben. Wir werden Teil der Szene. Das ist ergreifend. Genau das will Longo erreichen: „Ich mache diese Bilder, weil ich sie sehen will. Und ich will sie in dieser Größe sehen. Die Größe ist wichtig, weil es einen Moment kreiert, der dir den Atem raubt.“

Am Ende der Ausstellung sehen wir riesige Eisberge, Haie und Wellen. Das klingt nach Naturnähe, ist aber tatsächlich ähnlich bedrohlich wie die Bilder im Eingang. Diese Darstellungen entsprächen unserer Welt, erklärt Longo: „Ich meine wir – die Menschheit – könnte sich selbst zerstören.“

veröffentlicht in: NZZ, 11.12.2024