Die Wissen im Taxispalais in Innsbruck

25. Aug. 2023 in Ausstellungen

Michelle & Noel Keserwany, Les Chenilles (Film Still), 2022. HD-Video, Farbe, Arabisch / Französisch, 30 Min.
Mit: Masa Zaher (Asma), Noel Keserwany (Sarah). Koproduziert von Dewberries Films und La Biennale de Lyon (16. Ausgabe). Courtesy die Künstlerinnen und Dewberries Films / Karim Ghorayeb

„Die Wissen“ fragt im Taixspalais Kunsthalle Tirol, wie Diskurse um mehrfache Zugehörigkeiten in Westeuropa anders, adäquater gedacht und praktiziert werden können.

Das Wissen. Neutrum, Einzahl. In manchen Sprachen schon längst in den Plural gesetzt, kennen wir in der deutschen Sprache nur das eine singuläre Wissen. Je mehr Menschen allerdings mit mehrfachen Zugehörigkeiten in einer Gesellschaft zusammenleben, desto dringender werde es, von einem pluralen Wissen zu sprechen: die Wissen. Davon ist  Nina Tabassomi, Direktorin der Innsbrucker Kunsthalle Taxispalais Kunsthalle Tirol,  überzeugt. „Die Wissen“ heißt denn auch der zweite Teil einer Ausstellungstrilogie. Ausgangspunkt sind postmigrantisch geprägte „plurale Erfahrungshorizonte“, wie sie erklärt.
Unsere westeuropäischen Länder sind nicht nur empirisch, sondern auch narrativ zu Einwanderungsländern geworden. In Österreich betrug 2022 der Anteil jener, deren beide Eltern im Ausland geboren wurden, über 2.3 Millionen Menschen bzw. 28,7 Prozent der Bevölkerung. Anders als bei den ersten Migrationsdebatten in den 1970er Jahren gilt heute als oberste Forderung Integration – allerdings nicht mehr wie Anfangs im Sinne einer einseitigen Eingliederung in eine Aufnahmegesellschaft. Stattdessen wird heute eine strukturelle Öffnung bzw. Abbau von Barrieren gefordert. Dabei sollen die verschiedenen Nationalitäten und damit auch Kulturen als heterogen und plural akzeptiert werden. Das erfordert eine Neuverhandlung von Ressourcen und Normen – und eben von Wissen. Hier also setzt die Ausstellung in Innsbruck an.

Elif Saydam Staatsbibliothek (Stabi), Potsdamer Platz, 2022 Inkjet-Transferdruck und Öl auf Leinwand, 21 x 30 cm Courtesy die Künstler_in und Tanya Leighton, Berlin / Los Angeles Foto: Julien Gremaud

Aber wie lässt sich das bildlich vermitteln? Gleich im ersten Raum hängt ein kleines Bild an der Wand. Elif Saysam schmückt darauf die Fotografie einer Bibliothek mit einem zart aufgetragenen Blumenmuster, mittendrin scheinen Orangen von der Decke zu hängen. Was so harmlos erscheint, ist laut Ausstellungsbroschüre die Forderung, diesen Raum des Wissens auch für Erfahrungswissen zu öffnen. Eine solche Leseweise basiert auf einem Interpretationsprozess, den wir in der Moderne eigentlich abgelegt hatten: Dinge symbolisch zu verstehen. Frank Stella formulierte in den 1960er Jahren nachhaltig „what you see is what you see“. In Innsbruck jedoch sind die Dinge Stellvertreter für Inhalte, die so nicht dargestellt sind: Die Blumen und Früchte stehen dafür, eine Bücheransammlung in einen lebendigen Ort des (Alltags-)Wissens zu verwandeln.

Nooshin Askari Rivers, 2022/2023 Siebdruck auf Karton, Ton, Papierschnur, 195 x 180 (45/90/45) cm Courtesy die Künstler_in die Wissen, Ausstellungsansicht, TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol, 2023. Foto: Günter Kresser

Ähnlich symbolgeladen sind auch Nooshin Askaris Skulpturen angelegt: Drei Pappkartonagen stehen wie offene Schränke im Raum. Innen sind Umrisse von Figuren aufgezeichnet, schematisch, geschlechtsneutral, ohne ethnische Zuordnung. Davor erkennt man ein leeres weißen Blatt. Als reale Objekte gehören drei fantasievoll geformte Teekannen zu dem Ensemble – Symbole des Zusammentreffens. Dafür müssten die Figuren ihren geschützten Raum verlassen, erhielten dann eine Identität, selbst gewählt oder fremd zugeschrieben. Nicht die Objekte, sondern Prozesse stehen hier also zur Debatte – und das überspitzt Askaris noch weiter in seiner „Verträge“-Serie: Leere, weiße Aluminiumbleche ragen auf weißen Sockeln hoch in den Raum. Zunächst glatt wie eine Papierbahn, sind weitere wild geformt, fast wie tanzende, widerständige leere Blätter. Formal spannungsvolle Skulpturen, öffnet der Titel „Verträge“ eine Interpretation, die wir erst dank der Broschüre verstehen: „Wer kann die Schriftstücke lesen und wer nicht? Wer kann sie verhandeln und wer nicht? Wen schützen sie und wen nicht?“

die Wissen, Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Nooshin Askari und Elif Saydam, TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol, 2023. Foto: Günter Kresser

Hiwa Ks Film dagegen ist leichter zu decodieren: Als Auftragsarbeit der documenta 14 entstanden, balanciert er einen Stab mit lauter Spiegeln auf seiner Nase, während er einige Abschnitte einer Migranten-Route von Kurdistan bis Rom nachgeht. Spiegel gleich multiple Perspektiven, Migration als Gefahr. Auch hier dominiert die Symbolik.
Ist der Rückgriff auf Symbolik in der Kunst hier ein bewusst gesetzter Aspekt kultureller Neuverhandlungen? Vielleicht, allerdings folgen nicht alle ausgestellten Werke dieser Entscheidung. Elif Saydams Werke im Untergeschoß des Taxispalais widersprechen dem: Mit Blattgold, vernähten Textilien, Kupfer, Drucken und Öl lässt Saydam komplexe Bilder entstehen, die mit keiner einfachen Symbolik zu entschlüsseln sind. Hier ergeben viele Elemente, Assoziationen, Kontexte ein neues, facettenreiches Ganzes – fast so, wie man sich postmigrantische Gesellschaften wünschen würde. Und auch Michelle & Noel Keserwanys arabisch/französischer Film „Les Chenilles“ schafft es, eine neue Erzählung aus vielen parallelen, weitreichender Fäden zu spinnen. Wir erleben eine langsam entstehende Frauenfreundschaft, in die Fakten aus dem Leben weiblicher Arbeitskräfte in der Seidenproduktion des 19. Jahrhunderts im Libanon eingeflochten sind, darunter auch Verträge, die keine lesen konnte, die ihnen alle Rechte nahmen und kaum Lohn gaben. Diese in sich sehr schlüssigen, bisweilen nur mit Hilfen zu verstehende Ausstellung erinnert uns daran, dass auch Symbole zu ´die Wissen´ gehören und ihre Stellung in der Kunstgeschichte neu verhandelt werden sollte.
veröffentlicht in: Die Presse, 10.8.2023
Taxis-Palais Kunsthalle Tirol, die Wissen, 8.7.-8.10.2023, co-kuratiert von Setareh Shahbazi
https://www.taxispalais.art