Ursula Biemann, Rodrigo Braga: Andere Wirklichkeiten

30. Okt. 2024 in Ausstellungen

Ursula Biemann, Filmstill Acoustic Ocean. Courtesy Ursula Biemann

Mit den beiden Personalen von Ursula Biemann und Rodrigo Braga im Freiraum des Museumsquartiers lernen wir biokulturelle Wissenskulturen kennen.

Mehrere Wochen lang fuhr Ursula Biemann mit dem Anführer der Inga-Gemeinschaft durch den Regenwald von Kolumbien – teilweise in einem kugelsicheren Auto. Die Gefahren durch illegalen Koka-Anbau, Waldrodungen bis zu Minenbetreibern waren und sind bis heute allgegenwärtig. Es führt zur Bedrohung bis Verdrängung der indigenen Bevölkerung. Die Tour begann 2017 auf Initiative eines Kunstmuseums in Bogota, Biemann ist bekannt für ihre als Feldforschungen angelegten, künstlerischen Projekte.

Indigene, biokulturelle Universität

Am Ende des fünfjährigen Projekts bat Hernando Chindoy Chindoy, wie der Inga-Anführer heißt, die Schweizer Künstlerin, ihm beim Aufbau einer indigen, biokulturellen Universität zu helfen. Die indigen Völker des Amazonasgebiets betrachten Wissen als Teil des Ganzen, das aus bedeutungsvollen Beziehungen besteht, zur Umwelt, zu allen Wesen, zur Erde. Erkenntnisse werden nicht durch Beschreiben und Benennen, sondern als Begegnungen zwischen Wesen gezogen – Pflanzen können da auch mal als Person auftreten. Diese Universität braucht dementsprechend auch keine Infrastruktur, keine Gebäude mit Hörsälen, sondern findet vor Ort statt. Das Territorium ist der Lehrmeister. Es ist eine dezentrale Universität, die auf dem Leben und Wissen der Inga Gemeinschaft basiert.

Ausstellungsansicht Ursula Biemann, Becoming Earth © MuseumsQuartier, Foto: Simon Veres

Gespräche mit Indigenen, Aufzeichnungen der Veränderungen und Erkenntnisse aus dieser Zeit fließen jetzt in den filmischen Dokumenten der Reise durch den Regenwald ein, die Biemann unter dem poetischen Titel „Becoming Earth“ im Freiraum des Wiener Museumsquartiers zeigt. Ein Jahr lang bespielte das Fotoarsenal die Räume im vorderen Trakt. Jetzt programmiert das Haus das Programm selbst.

Grüne Linie im Museumsquartier

Wobei ´Haus´ irritiert. Denn eigentlich handelt es sich um die Verwaltung des gesamten Areals, korrekt als ´Betriebsgesellschaft´ bezeichnet. Mit ihrem Antritt als Direktorin des MuseumsQuartiers hat Bettina Leidl eine konsequente, grüne Linie für das Areal vorgegeben. Beginnend mit der Innenhof-Begrünung, wird der ökologische Schwerpunkt jetzt in den Freiraum-Ausstellungen fortgeführt. Für den Auftakt konnte kaum eine bessere Künstlerin gewählt werden als Ursula Biemann und im gegenüberliegenden Raum Rodrigo Braga mit seinen schamanisch wirkenden Werken. Beide thematisieren unser Verständnis, unseren Umgang mit Natur – wobei der Kontrast kaum größer sein könnte. Beide fragen nach unserem Platz in der Welt, wofür der Brasilianer Symbole wie das Ei oder das Auge einsetzt, mal seine Hand mit Kohle schwärzt und uns mit riesigen Leinwänden brennender Wälder empfängt. Es seien „plastische oder visuelle Interpretationen meiner Gefühle gegenüber der Welt“, wie er es im Katalog erklärt.

Ausstellungsansicht Rodrigo Braga, Nullpunkt © MuseumsQuartier, Foto: Simon Veres

Andere Wissenskulturen

Biemann dagegen betreibt seit Jahrzehnten videobasierte Erforschungen globaler Transformationen. „Wie kann man Klimaerwärmung, das Verhalten von Insekten oder subtile Veränderungen in der Wasserchemie in ein überzeugendes Thema für die Kunst verwandeln“, fragt sie sich in einem Gespräch im Katalog. Diese Fragen führten sie weg von unserer durch die Aufklärung geprägten Erkenntnistheorie und hin zu „anderen Wissenskulturen“. So kombiniert sie in ihren Videos verschiedene Stränge: wissenschaftliche Forschungen werden von fiktiven Charakteren vermittelt, komplexe Zusammenhänge in SF-ähnlichen Erzählungen verwoben. Für das Video „Acoustic Ocean“ erfand sie die Figur einer samischen Meeresbiologin, eine Aquanautin in einem orangen Anzug, die „mehrere Zeiträume bewohnt“ (Biemann). Das 30minütige Regenwald-Videoessay „Forest Mind“ ist zwar dokumentarisch, geht bei der zentralen Frage aber weit darüber hinaus: „Haben Wälder eine kognitive Dimension, haben sie ein Bewusstsein?“ Biemann nennt es ein „biosemiotisches Projekt“, das etwa Labortechnologien und Neurobiologie einsetzt, um Praktiken von indigenen Medizinern zu verstehen. Je länger wir ihre intensiven, bildgewaltigen, von westlichem Wissen und indigenen Erfahrungen geprägten Videos sehen, desto tiefer tauchen wir ein in neue Gedankenwelten – visuell verführerisch umgesetzt, ob des veränderten Blickwinkels intellektuell herausforderd angelegt. Vor allem aber getragen vom Respekt vor allen Wesen. Beide Ausstellungen führen uns in Welten, die uns nahelegen, unsere Vorstellungen, unsere Beziehung zu allem Lebenden zu überdenken – und zu ändern.

veröffentlicht in: Die Presse, 23.20.2024

Museumsquartier Wien, Becoming Earth – Ursula Biemann, Nullpunkt – Rodrigo Braga; bis 23.2.2025