Henri Cartier-Bresson im Palazzo Grassi

18. Dez. 2020 in Ausstellungen

Punta della Dogana, Venedig © Palazzo Grassi, Foto ORCH orsenigo_chemollo

Punta della Dogana, Venedig © Palazzo Grassi, Foto ORCH orsenigo_chemollo

Eigentlich hätte die umfassende Henri Cartier-Bresson -Ausstellung im Palazzo Grassi schon im März eröffnet werden sollen. Aber auch in Venedig galt wegen der Pandemie Covid 19 von Anfang März bis Mitte Mai ein streng überwachter Lockdown. Seither startet die Lagunenstadt ganz langsam wieder Richtung Normalität – wobei dieser Zustand selbst im Juli noch eher Wunsch denn Wirklichkeit ist: Nur wenige Tische stehen auf dem Markusplatz, die Restaurants sind kaum gefüllt, viele Bars sperren erst gar nicht auf. Keiner muss sich über Kreuzschiffe ärgern, nicht einmal Luxus-Yachten legen an. Über die Ponte dell´Accademia kann man entspannt schlendern und im Canal Grande schauckeln nur ab und an Boote vorbei. Statt Touristenhorden schlendern vor allem Italiener durch die Gassen, ab und an hört man die deutsche Sprache. Die Stimmung ist großartig in Venedig – alles gut also? Nicht ganz: Die Architektur Biennale wurde auf nächstes Jahr verschoben, die Galerien sind teilweise noch geschlossen, die Museen öffnen wenn überhaupt nur ihre permanenten Sammlungen – und auch das nur am Wochenende. Einzig im Palazzo Grassi und der Punta della Dogana beginnen im Sommer die ersten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst.
Beide Häuser gehören dem französischen Milliardär Francois Pinault. Er hatte sich 2005 enttäuscht über die französische Bürokratie von Paris abgewendet und seine Kunststiftung stattdessen nach Venedig verlegt. Für 29 Millionen Euro kaufte er der Fiat-Familie Agnelli den Palazzo Grassi ab. 2007 sicherte er sich dazu die wenige Gehminuten entfernte Punta della Dogana für eine 30jährige Nutzung. Beide Bauten ließ er vom japanischen Architekten Tadao Ando umbauen, seither sind sie mit je 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche zu Tempeln für zeitgenössische Kunst geworden. Hier finden jetzt drei Ausstellungen zeitgleich statt: In dem dreieckigen, ehemaligen Zollhaus an der Spitze der Insel Dorsoduro haben drei Kuratoren, darunter der von Pinault intensiv gesammelte Künstler Thomas Houseago, „Ohne Titel 2020. Drei Perspektiven auf die Kunst der Gegenwart“ entwickelt. Werke von über 60 Künstler:innen sind unter recht allgemein gehaltenen Themen wie „Sex“, „Beginn der Malerei“ bis zu „Utopia“ und „Tod“ auf die 19 Räume verteilt. Vieles stammt dabei aus der Sammlung des Hausherren Francois Pinault wie der große Raum „Roxies“ von Edward Kienholz (1960/61) oder Marcel Broodthaers „Armoire de Cuisine“ (1966-78). Immer wieder steht man vor monumentalen Skulpturen des Kurator-Künstlers Houseago, aber auch Werken weniger bekannten Künstlern wie das aus dem Rahmen heraus krakende Bild von Lee Bontecus von 1965.

Palazzo Grassi, Venedig © Palazzo Grassi, Foto Matteo De Fina

Palazzo Grassi, Venedig © Palazzo Grassi, Foto Matteo De Fina

Auch bei den beiden Ausstellungen im Palazzo Grassi sind Pinaults Schätze Ausgangspunkt des Programms: Die erste Retrospektive überhaupt des ägyptischen Künstlers Youssef Nabil (geb. 1972). Nabil ist bekannt für seine farbenfrohen, handkolorierten Fotografien, für die er in einem aufwendigen Prozess die Silbergelatine abkratzt. Der Ausstellungs-Höhepunkt ist „Le Grand Jeu“ des Fotografie-Meisters Henri Cartier-Bresson – die Kombination mit Nabil sei dabei eher Zufall als Konzept, erklärte Chefkurator Matthieu Humery bei der Presseführung am 30. Juni. Für Cartier-Bressons (1908-2004) große Personale entwickelte er ein eigenwilliges Konzept: Fünf Prominente sollten aus der Meisterwerk-Edition von Henri Cartier-Bresson eine ganz persönliche Auswahl treffen. 1973 hatte der Fotograf auf Anregung seiner Sammlerfreunde Dominique und John de Menil ein Set aus 385 seiner besten Fotografien zusammengestellt. Es entstand eine 5+1-Auflage. Ein Set besitzt Pinault, der jetzt selbst ´kuratiert´, zusammen mit dem Filmemacher Wim Wenders an, dem spanischen Autor Javier Cercas, der US-amerikanischen Starfotografin Annie Leibovitz und Chefkuratorin der Bibliotheque Nationale in Paris Sylvie Aubenas. Nicht die bisher so oft betonten Aspekte des ´entscheidenden Augenblicks´, der rigorosen Bildkompositionen und der irritierende Bildhelden sollten wichtig sein, sondern neue Perspektiven auf die Meisterwerke. Dafür bringen die Fünf ihre eigene Geschichte ein: Der Sammler Pinault lässt seine Auswahl zu Henri Cartier-Bresson in strengen, weißen Rahmen museal hängen, betont die Menschenbilder, die Aspekte von Armut, aber auch von Alter. Leibowitz wählt schwarze Rahmen für die Fotografien von Henri Cartier-Bresson, gruppiert die Bilder in assoziative Blöcke und entscheidet sich für einige der politischen und auch traurigen Aufnahmen, von Revolte und Einsamkeit. Cercas sucht Schriftstellerportraits von Henri Cartier-Bresson heraus, mit denen er seine eigenen, allerdings kryptischen Geschichten anhand der Fotografien erzählt – meist mit Menschen, die auf irgendetwas außerhalb der Bildwelten schauen. Er beginnt mit Ezra Pound und endet mit Samuel Beckett. Wim Wenders setzt auf Dramatik: Seine Räume sind verdunkelt, die Fotografien mit perfekten Spotlights ausgeleuchtet. Wenders entführt uns in eine filmische Fotografie-Welt, kombiniert mit einem kurzen Video über seine Beschäftigung mit dem Werk: Mit einer Lupe zoomt er auf die Gesichter und konzentriert sich auf die Blicke der Menschen, auf die Emotionen. Aubenas dagegen löst es weitgehend sachlich, unterteilt ihre Auswahl in Unterthemen wie Licht-Schatten-Spiele oder Kinder. Allerdings ließ sie die Wände rosa färben und die Fotografien in breite, braune Holzrahmen stecken, um das Schwarz-Weiß der Aufnahmen konkurrenzlos wirken zu lassen.
Einigen Fotografien begegnen man mehrmals: die auf dem Stromkasten stehenden Männer, der aus dem KZ-Lager kommende Junge in dem übergroßen Mantel oder auch der mysteriöse Nackte vor der Wand. Aber sie sind immer in andere Geschichten eingebettet – und genau da geht dieses Konzept der vielen Perspektiven hervorragend auf. Rund je 50 Fotografien wählten die Fünf aus, und durch die verschiedenen Setzungen wird die Vielschichtigkeit der Werke auch für ein breites Publikum offensichtlich – das sicherlich bald wieder nach Venedig reisen wird, in eine Stadt, die in Zukunft nur noch auf einen „sanften Tourismus“ setzen will.

veröffentlicht in: Kunstforum, Bd. 270, Sept./Okt. 2020Henr
Palazzo Grassi: Youssef Nabil; Henry Cartier-Bresson, bis 10.1.2021
Punta della Dogana: „Untitled, 2020. Three Perspectives on the art of the present“, bis 13.12.2020