Interventionen in Marseille: Dennis Adams + Krzysztof Wodiczko

20. Dez. 1992 in Ausstellungen

Zwei Künstler mischen mit ihren Interventionen Marseille auf.
Eigentlich liegt zwischen dem nördlichen Teil von Marseille, der Immigranten-Seite, und der südlichen, bürgerlichen Hälfte der Stadt der alte Hafen als imaginäre Grenze. Die Trennung ist sichtbar auf sozialer (der Norden gilt als „gefährlich“) und kultureller Ebene. Der Shopping-Bezirk, die meisten Sehenswürdigkeiten, Cafés und Ausstellungsorte liegen im Süden. Der nördliche Teil beginnt mit einem unausgewiesenen historischen Ort: mit jenem Altstadtviertel, das 1943 von den Nazis systematisch demoliert wurde. Lediglich die allererste Häuserzeile am Hafenrand blieb stehen, dahinter mußte alles aus Furcht vor Unübersichtlichkeit und Partisanen einem neuentworfenen Komplex von Auguste Perret weichen. Die beiden Seiten treffen an der Bushaltestelle „Vieux- Port“ im Hafen aufeinander. Diesen Punkt wählte der US-Amerikaner Dennis Adams für seine Arbeit „Port of View“.
Adams ist vor allem für seine Haltestellen bekannt, etwa bei Skulptur Projekte Münster 1987. In Marseille dient ihm die Haltestelle als Projektionsfläche für eine Dia-Serie, die aus einer von ihm entworfenen Yacht-Hütte projiziert wird. Anders als die Haltestelle in Münster ist hier kein beleuchtetes Foto eingebaut, sondern werden dokumentarische Fotografien, aufgenommen im Norden Marseilles, in der Dunkelheit auf die gläserne Rückwand der Haltestelle geworfen. Adams‘ Hütte entstand nach Vorgabe der wenige Meter entfernt am Wasser stehenden Yachthütten der Schiffsbesitzer. Dennis Adams allerdings dreht die Hütte statt zum Wasser zum Norden hin, und statt die Passanten auszuschließen, lädt er mit Tisch und Bank zum Eintritt ein; statt dem Norden den Rücken zu kehren, wird die rückwärtige Spiegelwand zur Projektionsfläche des ehemaligen Altstadtviertels.

Dennis Adams versteht seine Kunst als Interventionen in den sozialen Raum. In den Straßen plaziert, in den Galerien oder Museen als Modell ausgestellt, bewegen sich die Arbeiten zwischen Werbe-Strategien (suggestive Fotografien, die er oft aus Pressefotos auswählt) und unmißverständlichen Statements zu sozialen Problemen. „Port of View“ transformiert nicht eine Alltagssituation in Kunst, sondern benutzt künstlerische Ausdrucksformen, um die Wahrnehmung zu verlangsamen und aufmerksam werden zu lassen auf Ungesagtes hinter dem offiziellen Image der Stadt. Gerade Haltestellen als Orte eines ungenutzten Wartens halten einen Raum offen, um etwa Fragen über die Gestaltung des öffentlichen Raumes zu stellen. Dennis Adams‘ interventionistische Kunst stellt am Marseiller Hafen konkret die Entscheidungsfrage zwischen privat und öffentlich angesichts des (historischen) architektonischen Eingriffs, der abgezäunten Hafensituation, der Besitzfrage von Haltestellen und den fotografierten (öffentlichen) Orten im Norden.

Unter dem Stichwort „interventionistische Kunst“ ist der Wahl-Amerikaner Krzysztof Wodiczko durch seine Diaprojektionen auf Denkmäler und öffentliche Gebäude (seit den 60er Jahren) fast ein Klassiker. Im Rahmen einer Gruppenausstellung im „Atelier d’artistes de la ville de Marseille“ zeigte Wodiczko hier seine aktuelle Arbeit „Homeless Vehicle Project“ (H-V). Während Antonio Muntadas und Rainer Oldendorf in der Ausstellung stadtbezogene Arbeiten präsentieren, ist Wodiczkos Marseiller Beitrag nicht für einen, sondern aus einem speziellen Kontext entstanden: New York. Dort sammeln Obdachlose Leergut ein, sortieren es und bringen es gegen fünf Cent pro Stück zurück in die Supermärkte. Wodiczkos eigens konstruierte „H-V“ bietet neben der Staufläche für Dosen und Flaschen einen Schlafplatz und eine spärliche Waschmöglichkeit. Zeichnungen, Fotografien und ein Video demonstrieren Konstruktion und Einsatz des Wagens. Sieht man von dem ideologischen Einwand ab, daß mit dieser Erfindung (die Wodiczko mit Hilfe einiger Obdachlosen konstruierte) bestehende Zustände bejaht werden, ist sicher die Präsentation des „Homeless Vehicle“ in einem Museum, dazu noch in Marseille, problematisch. Wodiczkos Entgegnung, daß nach Lösungen innerhalb des Bestehenden, nicht nach Utopien gesucht werden muß, erscheint im musealen Kontext absurd. Benutzt auf der Straße, verliert das Gefährt seine Kunsthaftigkeit, im Ausstellungsraum dagegen die soziale Integrität. Gegen den Verlust des Kunst-Attributs ist nichts einzuwenden, aber was ist mit dem Verdacht auf Benutzung sozialer Notstände zur Schaffung von musealen Werken?

Interventionistische Kunst ist Eingriff in soziale Zusammenhänge. Die Interventionen zeigen in unterschiedlicher Konsequenz Strategien, auf städtische Strukturen, auf Offizielles und auf Übersehenes zu reagieren. Statt urbanem Spektakel mit gesellschaftskritischem Impetus wird der soziale Raum selbst als Spektakel zur Disposition gestellt („Spektakel“ im Sinne von Guy Debord, also unter der Bedingung von passiver Hinnahme). Die Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit wird von den Künstlern nicht über Kunsthaftigkeit, sondern über Interventionsmöglichkeiten, über Weisen der Beteiligung bestimmt.

L’Observatoire, Vieux-Port, 148-150 quai du Port (Projektionen ab 23Uhr), bis 30.November 1992.

veröffentlicht in: taz, Berlin, 25.11.1992