Rasender Stillstand – 27. Artissima in Turin

08. Nov. 2020 in Kunstmarkt, Kunstmesse

ROSE FINN-KELCEY, Here is a Gale Warning, 1971-2011, Silver Gelatin Druck, Courtesy Kate MacGarry, London. Artissima 2020

ROSE FINN-KELCEY, Here is a Gale Warning, 1971-2011, Silver Gelatin Druck, Courtesy Kate MacGarry, London. 27. Artissima 2020

Schon im Frühjahr ahnte man, dass die 27. Artissima in Turin heuer anders wird. Im Herbst stand es dann fest: Es sollte eine Kunstmesse werden, die nicht in einer großen Halle mit diesen lähmend-langen Gängen wie in einem Baumarkt stattfindet, sondern in den ruhigen Räumen eines Museums. Dieses Konzept schien so perfekt! Mit dieser Idee hatte Ilaria Bonacossa auf die neuen, durch Corona bedingten Herausforderungen reagiert. Sie ist Direktorin der Artissima, einer der wichtigsten Kunstmessen Italiens. Gut 200 Galerien nehmen jährlich in Turin Anfang November teil. Die Standpreise der Messe sind vergleichsweise niedrig und die Galerien dadurch erfreulich experimentierfreudig, Artissima gilt als hochkarätige Entdeckermesse. Aber heuer ist alles anders. Sechs Mal musste sie die Messe umplanen, erzählt Bonacossa im Gespräch. Noch im Sommer glaubte sie, mit einer reduzierten Zahl von Galerien, strengen Zeitslots für Besucher und Extra-Reservierungen für VIP-Gäste einen weitgehend normalen Betrieb anbieten zu können. Die Anmeldungen gaben ihr Recht, über 120 Galerien wollten teilnehmen. Aber mit dem Beginn des Herbsts und den zunehmenden Corona-Beschränkungen in Europa wurden immer mehr Galerien unsicher, ob sie überhaupt anreisen können. In kürzester Zeit fand Bonacossa eine neue Lösung: ein Teil der 27. Artissima findet virtuell statt, der andere physisch in Museen.

HEIKE-KARIN FÖLL, Self determined, 2016. Gouache, ink and vinyl letters on canvas. Courtesy the artist and Campoli Presti, London, Paris (15.000,-). Artissima 2020

HEIKE-KARIN FÖLL, Self determined, 2016. Gouache, ink and vinyl letters on canvas. Courtesy the artist and Campoli Presti, London, Paris (15.000,-). Artissima 2020

Das klingt überzeugend: 30 Künstler*innen werden in drei Sektionen der Messe vom 3. November bis 9. Dezember unter dem Titel „Artissima XYZ“ online gezeigt – die drei Buchstaben stehen „in ihrer Unaussprechbarkeit für die Möglichkeiten neuer und unerwarteter Sprachen“, erklärt Bonacossa dazu. 500 Euro zahlt jede Galerie für ihre Teilnahme. Ausgewählt wurden sie von drei Kuratorenteams, die jeweils für eine Sektion verantwortlich sind. Durch das digitale Format hätten sie viel freier und vor allem globaler agieren können, freut sich Bonacossa, denn keine der Galerien muss sich um Reisekosten oder Standgebühren sorgen. So finden sich heuer erstaunlich viele newcomer aus Südamerika wie Manuel Solano (Mexiko), der in seiner scheinbar harmonischen Malerei seine Kindheitsprobleme verarbeitet. Die für die Zeichnungen-Sektion Disegni verantwortliche Kuratorin Bettina Steinbrügge (zusammen mit Letizia Ragaglia) ist besonders erfreut über die vielschichten, Alltagserfahrungen einbindenden Werke der jungen Sarah Abu Abdallah aus Saudi-Arabien (ab 6000 Euro). Eine spannende Wiederentdeckung in der Back To The Future-Sektion der 27. Artissima ist die britische Künstlerin Rose Finn-Kelcey (1945-2014). 1971 ließ sie ihre herrlich doppeldeutige Flagge „Hier ist eine Sturmwarnung“ als Teil der damaligen Überblicksausstellung über Britische Kunst vor einem Gebäude des TV-Senders BBC wehen, der auch als Ausstellungsraum genutzt wurde. Manche Passanten sorgten sich daraufhin tatsächlich vor kommenden Winden. Heute kostet diese Flagge 72.000 Euro.

Zehra Dogan, Kurdistan 2, 2020, im MAO Museo d’Arte Orientale, Turin. Photo: Perottino – Piva / Artissima 2020, Prometeo Gallery Ida Pisani

Zehra Dogan, Kurdistan 2, 2020, im MAO Museo d’Arte Orientale, Turin. Photo: Perottino – Piva / Artissima 2020, Prometeo Gallery Ida Pisani

Anders als bei den meisten digital präsentierten Kunstmessen sind bei der online-Artissima zu den Werken die Preise angegeben. Und vor allem jede Menge Informationen abrufbar: ausführliche Pressetexte, Archivmaterialien und kurze Statements, in denen die Kurator*innen ihre Entscheidungen erklären – die übrigens durchweg von Qualität und Inhalten bestimmt gewesen seien, wie sie auf Nachfrage betonen. Das überrascht! Fernanda Brenner spricht von „fokussierten Gruppen“, die sie zusammengestellt haben, und Mouna Mekouar meint gar, mit ihrer Auswahl eigene „Geschichten erzählen“ zu können. Das ist offensichtlich ein spezifisch kuratorischer Ansatz – ob online-Gäste solche Überlegungen überhaupt wahrnehmen? Von Auktionshäusern ist bekannt, dass sie digital sehr wirksame, also plakative Werke online stellen. Viel- und Kleinteiliges verliert online an Attraktivität und findet weitaus schwerer Abnehmer. Einen Ausgleich können da vielleicht die kurzen, von Artissima produzierten Videogespräche bieten, in denen die Künstler*innen zu Wort kommen. Die sind in entspannten Situationen gedreht, oft im Atelier oder zuhause im Sessel, als langer Monolog oder auch Dialog mit Galeristen.

Artissima 2020, Palazzo Madama - Museo Civico d’Arte Antica, Torino Photo: Perottino – Piva / Artissima

Artissima 2020, Palazzo Madama – Museo Civico d’Arte Antica, Torino. Photo: Perottino – Piva / Artissima

Dieses ausführliche Serviceangebot kann die Kunstmesse nur deswegen anbieten, weil es als Unternehmen keinen Gewinn erzielen muss. Die Messe ist im Besitz der Stadt und damit Teil der Fondazione Torino Musei. Darum auch kann der zweite Teil der Messe in den städtischen Museen gastieren. Kuratiert von der Messedirektorin, sind dort 140 Werke auf drei Häuser verteilt: Die Galeria Civica d´Arte Moderna e Contemporanea (GAM) beherbergt 100 Werke; das ehemaligen Stadtpalais des Hauses Savoyen namens Palazzo Madama mitten in der Turiner Innenstadt nimmt rund 30 Werke von jungen Galerien aus den Editionen der letzten Jahre auf; im MAO (Museo d´Arte Orientale) gastieren 10 „orientalische“ Werke im Dialog mit der Museumssammlung. Diesen Teil hätten wir diese Woche besucht. Alles ist fertig aufgebaut, die Namensschilder angebracht. Aber am geplanten Eröffnungstag begann der neue „Lockdown light“ in Italien: Alle Museen müssen schließen. Ursprünglich sollte „Artissima Unplugged“ in den Museen bis zum 9. Januar zu sehen sein. Vielleicht können sie mit den Galerien eine Verlängerung beschließen, hofft Bonacossa.

Artissima 2020, GAM Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Torino. Photo: Perottino – Piva / Artissima

Artissima 2020, GAM Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Torino. Photo: Perottino – Piva / Artissima

Übertitelt sind die beiden Teile der heurigen 27. Artissima mit dem Titel „Rasanter Stillstand“. Bonacossa entschied sich dafür schon Ende letzten Jahres. Damals habe sie die vielen Ankündigungen in der globalen Politik im Sinn gehabt, die doch zu keinen Veränderungen führen, erinnert sie sich. Mit der 2. Lockdown-Welle erhält der Titel eine nicht vorauszuahnende Neubedeutung und könnte zum Motto des gesamten Kulturbetriebs dieses Jahres werden.

27. Artissima, XYZ online 3.9.-9.12.2020, Unplugged in den Museen bis Januar
Originalversion der gekürzten Fassung in Die Presse, 8.11.2020