„Die Kleinste unter den Großen und die Größte unter den Kleinen“, so charmant beschreibt Ilaria Bonacossa die Artissima. Bonacossa ist seit 2017 Direktorin der Turiner Kunstmesse, die heuer zum 26. Mal stattfindet. Eigentlich wollte sie die Messe schrumpfen, aber beim Durchsehen der Anmeldungen hätte sie vielen nicht absagen wollen, erklärt sie im Gespräch.
So nehmen dieses Jahr 208 Galerien aus 43 Ländern in der Ovalhalle etwas außerhalb des Stadtzentrums teil. 2006 als Eishalle für die Olympischen Spiele gebaut, macht der heuer trotz unerwartet trüber Herbsttage immer noch tageslichtdurchflutete Riesensaal einen Teil des Reizes dieser Messe aus. Vor allem aber nennen die Galeristen die besondere Atmosphäre von Turin, das hervorragende Essen gerade jetzt in der Trüffel-Zeit, die große Zahl an Kuratoren unter den Messebesuchern und das außergewöhnliche Parallelprogramm als Grund, dieser Messe die Treue zu halten. Die Messe ist im Besitz der Stadt und damit nicht gewinnorientiert.
Ein Teil der Einnahmen werde reinvestiert, der Rest komme den Museen und Institutionen der Stadt zugute, erklärt Bonacossa – was die enge Verbundenheit der Museen erkläre. Denn alljährlich laufen parallel zur Messe die Ausstellungshöhepunkte des Jahres, etwa wenige Gehminuten entfernt in der Pinacoteca Agnelli die 100 großartigen Holzschnitte der japanischen Meister Hokusai, Hiroshige und Hasui. Hier kann man den langsam zunehmenden Einfluss der europäischen Avantgardekunst auf die traditionelle japanische Kunst studieren. Sie präsentieren ein Gegengewicht zur zeitgenössischen Kunst auf der Messe, erklärt Direktorin Marcella Pralormo im Gespräch. Die Privatstiftung ist in der ehemaligen Produktionshalle des Fiat-Konzerns untergebracht, wo auch die kleine, aber hochqualitative Sammlung der Unternehmensfamilie mit 25 Werken von Canaletto, Picasso, Matisse bis Giacomo Balla zu sehen ist.
Im OGR ist Monica Bonvicinis neueste Installation „As Walls Keep Shifting“ zu sehen, in der sie das Konfliktfeld Familie bzw. Eigenheim bildintensiv thematisiert, in der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo zeigt Berlinde De Bruyckere neue, eigens für die Hallen produzierte Werke und im Castello Rivoli läuft eine große Retrospektive des im Irak geborenen US-Künstlers Michael Rakowitz, dessen Werke oft um bewaffnete Konflikte und historische Traumata kreisen.
Ähnlich global wie das Parallelprogramm ist auch die Artissima ausgerichtet. Bonacossa spricht von einer „glokalen“ Messe, also eine Mischung aus global und lokal. Dafür hat sie heuer einen neuen, geographischen Schwerpunkt eingeführt. Den Auftakt machen 15 Galerien aus dem Nahen Osten, darunter die junge Galerie Marfa aus Beirut mit Werken von Caline Aoun. Aoun wird in zwei Wochen als Deutsche Bank-Künstler des Jahres eine große Einzelausstellung in Berlin eröffnet. Sie übersetzt digitale Informationen in Lichtbilder, auf der Messe sind die Wände des Standes mit ihren raumhohen, farbigen Tüchern verhängt. Die Preise für solche kleineren Stände sind niedrig, weswegen nicht nur die jüngeren Galerien auf dieser Messe Risiken eingehen und auch weniger bekannte Kunst mitbringen wie die New Yorker Catinca Tabacaru. Sie zeigen den Afrikaner Terrence Musekiwa, der in Geflechte aus rohen Seidenfäden handgefertigte Masken aus Springstone einfügt (ab 8000 Euro) oder aus alten Telefonhörern kleine Figuren (35.000 Euro) schafft – magische Objekte, die wie eine Brücke zwischen verschiedenen Zeiten und Kulturen wirken.
Zu den Stammkunden der Messe gehört die Berliner Galerie Persons Projects, die einen Teaser mitgebracht hat: eine neue, noch nie gezeigte, frühe Serie von Grey Crawford. Der US-Künstler experimentierte in den 1970er Jahren in der Dunkelkammer mit Masken und Filtern, seine beeindruckende, nahezu abstrakte Farbfeld-Fotografie erscheint wie die Fortsetzung der Shaped Canvas in einem neuen Medium. Damals interessierte sich kein Galerist für die Serie, „Fotografie wurde ja gerade erst zur Kunst“, erklärt Crawford im Gespräch. Auf der kommenden Messe Paris Photo wird die Galerie dieser Serie einen ganzen Stand widmen. Zur spannendsten, weil ungewöhnlichsten Sektion der Artissima gehört die auf Zeichnung spezialisierte „Disegni“, wo die Wiener Galerie Nächst St. Stephan wunderbar fröhliche Sprühbilder auf Papier von Katharina Grosse (ab 36.000 Euro) und Gio Marconi aus Mailand die collagenartigen Boxen von John Bock (ab 70.000 Euro) anbieten, die in der Mischung aus Fotografien und Objekten wie kleine Theaterbühnen wirken.
Eine interessante Ausweitung hat die Sektion „Back to the future“ erhalten, die Wiederentdeckungen gewidmet ist, jetzt allerdings bis in das Jahr 1999 reicht. So finden sich dieses Jahr auch zwei allgegenwärtige Klassiker darunter: William Wegman und Jessica Stockholder – ist die sektionsbedingte Zuschreibung nicht eine Degradierung ihrer Kunst? Bonacossa argumentiert die Entscheidung wenig überzeugend mit der geringen Marktpräsenz der beiden Künstler. Eine wirkliche Entdeckung – zumindest im europäischen Raum – dagegen ist die 1932 geborene Japanerin Kimiyo Mishima bei Sokyo, die in den 1960er Jahren die verhängnisvolle Leidenschaft ihres Mannes von Pferdewetten zum Bildinhalt machte: Sie klebte die Lose in Form einer Rennbahn akribisch aneinander, kombiniert mit den gedruckten Beschreibungen der Pferde (ab 96.000 Euro).
Überzeugend ist auch der US-Künstler Michael Venezia bei der Galerie Häusler. Zwar war Venezia bereits 1996 im Kunstmuseum Winterthur ausgestellt, aber Wolfgang Häusler entdeckte den heute 83jährigen Künstler erst später: in der Sammlung von Dan Flavin. Die beiden waren befreundet, sie verband das Interesse an Licht. Während Flavin mit Neonröhren arbeitete, wollte Venezia das Licht auf die Leinwand bringen. Statt mit Pinsel arbeitete er mit Sprühpistolen und erzeugte damit sphärisch wirkende Bilder (Zeichnungen ab 11.000). Häusler spricht von „Meisterwerken zu guten Preisen“ – eine Beschreibung, die auf viele Werke auf der Artissima zutrifft, und das ist der größte Reiz dieser besonderen Messe in Turin.
veröffentlicht in: NZZ, 3.11.2019
Artissima, 1.-3. November 2019, Turin