Wim Delvoye: Carte Blanche im MAH in Genf

18. Okt. 2024 in Interview

Wim Delvoye, Installationsansicht Raum „Die Angst vor der Leere“ in “Die Ordnung der Dinge”, Saal Nr. 13, MAH, Genf 2024. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

Heuer konnte Wim Delvoye die Archive und Sammlungen des Musee d´art et de histoire (MAH) in Genf durchstöbern. Seine „Carte Blanche“ ist ein ganz besonderer Wurf geworden!

Wie kann ein Museum mit einem so umfangreichen und diversen Sammlungsbestand umgehen wie das Musee d´art et de histoire (MAH) in Genf? Direktor Marc-Olivier Wahler beantwortet diese Frage mit einer Carte Blanche-Ausstellung, zu der er seit vier Jahren externe Kurator*innen einlädt. Auf Jakob Lena Knebl folgte der Kurator Jean-Hubert Martin, anschließend Ugo Rondinone und dieses Jahr Wim Delvoye.

In dem höchst vielschichtigen Werk des 1965 in Belgien geborenen Künstlers erleben wir immer wieder, wie uns vertraute, alltägliche Dinge aus ihrem ursprünglichen Kontext in eine neue, künstlerische Logik übersetzt sind. „Seine Hauptmotivation ist, dass die Kunst dank ihm in alle wirtschaftlichen, volkstümlichen, wissenschaftlichen, pataphysischen usw. Systeme eindringt“, beschreibt es Wahler. Dazu passt, dass Wim Delvoye ein leidenschaftlicher Sammler ist. Bei der Durchsicht des MAH-Depots entschied er bald, für seine „Carte Blanche“ Objekte aus seinem Besitz in die Schau zu integrieren. Und selbstverständlich eigene Werke – das sei Teil des übergreifenden Museumskonzepts, betont er im Gespräch.

Wim Delvoye, Venus & Adonis, 2023, pulverlackierte Bronze. Installationsansicht in „Die Ordnung der Dinge“, Eingangshalle, MAH Genf 2025. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

„Die Ordnung der Dinge“ in 15 Räumen

Als Ausstellungstitel wählt er „Die Ordnung der Dinge“: In den 15 Räumen wirbelt er den Status, die Hierarchien zwischen banalen und künstlerischen Objekten durcheinander, durch Verfremdung, eine „Wissenschaft der Umkehrung“ und einen „eleganten Vandalismus“, wie er es nennt. Das beginnt in Saal 1 mit einer lebensgroßen Venus und Adonis-Figur. Ursprünglich von Antonio Canova geschaffen, ist Delvoyes Version in sich verdreht – die Torsionsbewegung  verweist auf die „Macht des verzerrenden und neu verortenden Blicks des Künstlers auf die Kunstgeschichte“, wie es im Begleitheft heisst. Dazu gehören aber auch unerwartete Kombinationen, wenn er in einem Raum archäologische Steintafeln mit Hieroglyphen mit seinen Reliefs zusammen zeigt, in die Szenen aus den Ego-Shootern „Counter-Strike“ und „Fortnite“ gehauen sind. Ein andermal treten Etuis in Dialog mit Särgen. Und wir sehen historische Musikinstrumente neben Alltagsobjekten wie ein Eimer oder ein Motorrad, für die Delvoye elegante Samt-Etuis anfertigen ließ – eine neue Hülle führt zu neuer Bedeutung.

Wim Delvoye (rechts), Marc-Olivier Wahler vor der Kugelbahn. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Smile & Shoot

Wim Delvoyes riesige Kugelbahn

Einige Werke ließ Delvoye sogar brachial durchbohren: Ausgehend von Piranesis berühmten „Carceri“-Drucken von imaginären Gefängnissen entwarf Delvoye eine riesige Kugelbahn, die  quer durch Wände, von seinem Studio nachgemalte Bilder von Warhol und Picasso, sogar historische Original-Holzskulpturen führt – subversiv, zerstörerisch, auch befreiend ist diese Carte Blanche.

Sabine B. Vogel: Ist „Carte Blanche“ am MAH deine erste kuratierte Ausstellung?

Wim Delvoye, Installationsansicht Raum „Italienische Venus“ in “Die Ordnung der Dinge”, Saal Nr. 2, MAH, Genf 2024. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

Wim Delvoye: Ja, aber ich bin ja als Künstler eingeladen – es ist eigentlich nicht ein einhundertprozentiges Kuratieren wie eine Gruppenausstellung mit anderen Künstlern. Ich trage hier mehrere Hüte, alle gleichzeitig aufeinander: als Künstler, als Kurator – und auch noch als Sammler. Diese Kombination birgt eine enorme Kraft. Ich liebe es, zu sammeln. Münzen, Papiergeld, Möbel, Malerei – in meiner Vorstellung kuratiere ich die Dinge oft. Ich würde nie etwas wegschmeißen. Ich sammle auch die Verpackung der Zahnpasta Colgate. Ich habe sicher so viele dieser Verpackungen wie von Vache Qui Rit.

Wim Delvoye, Installationsansicht Raum “Die Ordnung der Dinge”, Saal Nr.9, MAH, Genf 2024. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

SBV: Hast du all die Zahnpaste benutzt und den französischen Schmelzkäse gegessen?

Wim Delvoye: Nein! Diese Creme sammeln viele in Frankreich und ich habe angefangen, die Sammlungen zu sammeln und zu einer Super-Sammlung zusammenzustellen. Ich trage aber noch einen Hut: Ich bin auch Gestalter. Es ist sehr schwierig, alle diese in Größe und Art so unterschiedlichen Objekte zusammen in einem Raum zu zeigen! Manche Objekte sind ja gar nicht für eine Präsentation geschaffen wie die Helme. Wir haben uns für eine sehr diskrete Form entschieden…

SBV: … in mehreren Reihen zusammengefasst hinter Glas als Wandobjekt? Es ist herrlich überraschend und sehr humorvoll, zwischen den historischen Helmen deine Kunstwerke zu entdecken, die Kappen mit Ornamenten. Oder zwischen den Rüstungen deine Rollkoffer-Kunstwerke.

Wim Delvoye, Installationsansicht Raum „Perspektive: Madame Recamier“ in “Die Ordnung der Dinge”, Saal Nr. 6, MAH, Genf 2024. Installationsansicht. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

Wim Delvoye: Ja, und es ist der einzige Weg, sich mit der Geschichte wieder zu verbinden.

SBV: Wusstest du von Anfang an, dass du Teile deiner eigenen Sammlung mit einbringen wirst?

Wim Delvoye: Zuerst habe ich die Museumssammlung angeschaut und festgestellt, dass nicht viel vorhanden ist. Also musste ich meine historischen Gemälde dazu nehmen. Ich kaufe keine Bilder nur, weil sie gut sind. Ich kaufe Bilder mit kleinen Fehlern, die etwas merkwürdig sind – so wie „Amor und Psyche“, wo Amor ein kleiner Junge ist, Psyche aber eine ältere Frau. Ein Altersunterschied, der nicht ganz passt. Und sie hält ein Messer, das ist nicht Teil der Geschichte – ein Mysterium!

SBV: Aber das Museum verfügt doch über Tausende von Objekten im Depot?

Wim Delvoye: Die Museumssammlungen des 19. Jahrhunderts sind gut. Aber es gibt nur wenige hochwertige 17. Jahrhundert-Malerei – verglichen mit dem Louvre. Aber im Louvre dürfte ich nie das tun, was ich hier getan habe.

SBV: Wie bist du vorgegangen bei der Auswahl aus dem Depot?

Wim Delvoye, Installationsansicht Raum „Perspektive: Madame Récamier“ in „Die Ordnung der Dinge”, Saal Nr. 7, MAH, Genf 2024. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

Wim Delvoye: Keine Vorurteile. Und keine Hierarchie. Alles Gelernte erst einmal vergessen. Denn was wir mitbringen, ist das Wissen um den Wert und den Preis. Der Preis der Dinge und der Wert von Nichts. Ich habe im Depot Dinge gesehen, die kosten fünf Euro – sie besitzen sogar eine Sammlung von Schweizer Bonbons! Aus den 1950er Jahren! Irgend jemand hat das gesammelt und dann dem Museum geschenkt. Es gibt dort Messer und Gabeln, Flaschen – vor allem funktionale Objekte, alles, was du dir vorstellen kannst. Das Museum ist ein riesiges Sammelbecken von Schenkungen.

SBV: Worauf basiert dein Konzept für die Ausstellung?

Wim Delvoye: In der Ausstellung gibt es zwei ganz wichtige Referenzen: Gordon Matta-Clark und der Film „Der Lauf der Dinge“ von Fischli/Weiss – diese Künstler sind meine Paten für die Ausstellung. Sie sagen: Mach weiter, du erhälst unsere Erlaubnis, auch für deine Kugelbahn.

SBV: Ist auch der Maler Lucio Fontana eine Referenz?

Wim Delvoye: Fontana ist der Scharlatan (lacht). Schau dir diesen TV-Film an, der in der Ausstellung steht! Ich würde kein Werk von ihm zeigen, dass wäre viel zu direkt. Aber diese Dokumentation des belgischen Fernsehens aus den 1960er Jahren, wo sich Fontana rechtfertigen muss, ist perfekt! Wir haben dafür extra diesen historischen Fernseher gesucht, damit der Film ein Sammlungsobjekt wird.

SBV: Du hast gerade die Kugelbahn erwähnt, die quer durch zwei Räume verläuft – wie hast du die entwickelt?

Wim Delvoye: Wir haben zunächst alles in 3D am Computer vorbereitet, und dann zusammen mit Kugelbahn-Spezialisten den Lauf entwickelt – es ist meine erste Kugelbahn, ich erlaube mir keine Fehler.

SBV: Manche Löcher gehen ja direkt in ein Auge auf einem Gemälde oder quer durch den Kopf einer Skulptur …

Wim Delvoye, Installationsansicht Raum „Perspektive: Madame Récamier“ in “Die Ordnung der Dinge”, Saal Nr. 8, MAH, Genf 2024. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

Wim Delvoye: … ja, ich wollte eine Art Indifferenz, als würde ein Elektriker für seine Installation ohne jede Rücksicht in ein historisches Fresko, in einen Giotto bohren. Das hängt auch mit meiner Sammlung schlechter Restaurierungen zusammen – das sind unglaubliche Objekte! Ein wunderschöne Skulptur eines Heiligen oder das Bild einer Jungfrau aus dem 17. Jahrhundert, und irgend jemand hat es rosa übermalt! Die sind im Katalog abgebildet, da kann ich alles hinzufügen, was ich nicht zeigen oder ausleihen konnte – so wie das Bild von René Magritte „Madame Récamier de David“. Für die Ausstellung habe ich stattdessen Buchcover mit genau diesem Bildmotiv des geknickten Sargs auf der Récamier gesucht. Mit Hilfe des Programms Midjourney konnte ich es schnell recherchieren und kurzfristig eine kleine Sammlung zusammenkaufen – das ist so jetzt viel besser geworden!

SBV: Die Kugeln in der Kugelbahn erzeugen einen enormen Lärm, es ist fast wie in einer Fabrik – ist das Absicht?

Wim Delvoye: Ich habe die Lautstärke unterschätzt. Es war ein Risiko, so wie auch die Statuen im ersten Raum mit den Kugelbahnen. Die kommen direkt von der Gießerei in die Ausstellung. Eine ist der Abguss einer Skulptur von Antonio Canova, die andere steht oben als Original. Die sind auch riskant, ein Besucher sagte zu mir: Du bist ein männlicher Künstler und zeigst nur nackte, weibliche Skulpturen? Aber nein nein nein! Viele dieser Frauen sind ´in transition´, sind transsexuelle Wesen.

SBV: Wurdest du zu diesen neuen Skulpturen durch die Ausstellung hier inspiriert?

Wim Delvoye, Raum Nr. 9, Installationsansicht Raum „Fait à la main“ in “Die Ordnung der Dinge”, Saal Nr. 11, MAH, Genf 2024 © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

Wim Delvoye: Neue Ideen sind immer zehn Jahre alt. Du überlegst immer wieder, es gibt technische Probleme, man wird durch andere Ideen abgelenkt – gerade das ist ein riesiges Risiko! Das ist mein Problem! Es gibt Kollegen, die sind viel reicher, weil sie völlig fokussiert auf ein Werk sind, wie Maschinen. Ich folge jeder Route.

SBV: In jedem der 15 Säle sind auch Werke von dir ausgestellt, von dem Bügelbrett mit der Stadtflagge von Genf von 1988 bis zu den neuesten Skulpturen. Wolltest du die Schau als Retrospektive anlegen?

Wim Delvoye: Wenn die mir so viel Quadratmeter zur Verfügung stellen, wird das automatisch zu einer Art Retrospektive – ich könnte sicher nicht in einem Jahr so viele neue Skulpturen machen, um die Fläche zu füllen. Ich sehe meine Werke hier als Requisiten in einem Theaterstück. Alles, was ich mache, sind Props. Damit kann man Geschichten erzählen.

SBV: Warst du erstaunt, in der Sammlung so viele Objekte wie die Helme, Rüstungen oder Gefäße zu sehen, die deinen Werken in der ornamentalen Oberflächengestaltung ähneln?

Wim Delvoye: Aber nein, ich bin mir dieser Dinge sehr bewusst! Ich besuche so viele Flohmärkte wie Museen. Ich liebe solche Besuche! Im Grunde zeige ich hier meine Quellen, es ist ein sehr ehrliches Offenlegen. Ich nehme meiner Kunst vielleicht ein wenig Mysterium weg. Aber ich scheue mich nicht, das zu tun!

Morion, 1570-1580. Gravierter Stahl, Messing, Leinwand, Leder. Historische Sammlung, 1870. Inv. C 0224. © Musée d’art et d’histoire de Genève, Foto: F. Bevilacqua

SBV: Manche Kombinationen finde ich extrem humorvoll, wie die Rollkoffer neben den Rüstungen.

Wim Delvoye: Es ist humorvoll. Aber es ist auch traurig. Weil man ein verstecktes Thema in der Ausstellung darin findet: Diese Dinge sind der Abfall unserer westlichen Zivilisation. Es ist ein bisschen Oswald Spengler, „Der Untergang des Abendlandes“. So kann man auch die Löcher in den Bildern und in den sakralen Skulpturen lesen. Das ist ja unsere Kultur, und dann kommt da dieser Kerl, der da Löcher hineinbohrt.

SBV: Das wirkt sehr aggressiv…

Wim Delvoye: … eigentlich ist es weniger eine Aggression als eine Art Recycling: Wunderschöne Dinge der Vergangenheit werden wiederverwendet. Das machen wir ja jeden Tag. Hier mache ich es mit Objekten der Hochkultur. Das passiert aber auch mit uns. Wir werden auch recycelt, von anderen Kulturen. Zivilisationen. Von neuen, dominanten Mächten. Wir befinden uns gerade in einer Phase des Übergangs – das kann lange dauern. Bei den Römern hat es bis zum Untergang fast zweihundert Jahre gedauert.

Wim Delvoye, Carte Blanche, Musée d´Art et d´Histoire, 26.1.-16.6.2024

veröffentlicht in: Kunstforum International, Bd. 295, 2024

Giovanni Battista Piranesi (1720-1778) , The Arch with a Shell Ornament, 1749-1761 . Etching, engraving and drypoint. Historical collections; inv. E 86-0340. © Musée d’art et d’histoire de Genève, photo: A. Longchamp