Noch gibt es kein offizielles Ranking von Kunstmessen. Aber schon jetzt ist sicher, wer auf Platz eins des beliebtesten Kunsthandelsplatz´ steht: Artissima. Ob Galeristen, Kunden oder Kuratoren aus dem In- und Ausland – alle lieben die Messe in Turin.
Was aber macht die Artissima so erfolgreich? Die erste Antwort darauf basiert auf der wirtschaftlichen Struktur der Messe, die anders als etwa die zur MCH-Group gehörende Art Basel keinen Gewinn abwerfen muss. Denn Eigentümer ist die Stadt Turin bzw. eine Stiftung, der auch drei Museen angehören. So kann Artissima eine midsize-Messe mit niedrigen Standkosten bleiben. Waren es vor einigen Jahren noch über 200 Galerien, so nahmen heuer an der 30. Ausgabe 181 Galerien aus 33 Ländern von vier Kontinenten teil, darunter 13 aus Österreich. 39 Galerien nahmen erstmals teil. Nur 42 Prozent stammen aus Italien, Direktor Luigi Fassi spricht von der Messe als „Brücke zwischen Italien und dem internationalen Kunstmarkt“ – eine Position, die übrigens der ehemaligen Industriestadt beim erfolgreichen Strukturwandel massiv geholfen hat: Turin glänzt heute mit großartigen privaten und öffentlichen Kunstinstitutionen.
„Die richtige Größe“
Fassi beschränkt die Zahl der Galerien bewusst, er nennt es „die richtige Größe“, die jetzt erreicht sei. So herrscht auch bei großer Besucherdichte in den breiten, tageslichtdurchfluteten Gängen der 20.000 Quadratmeter großen, 2006 für die Olympischen Winterspiele gebauten ehemaligen Eishalle eine entspannte Atmosphäre. Dank der niedrigen Kosten können die Galerien anders als auf den Mega-Messen wie Frieze oder Art Basel Emerging Artists zu günstigen Preisen zeigen – was der Artissima seit drei Jahrzehnten konstant den exzellenten Ruf der Entdecker-Messe einbringt. Heuer bietet etwa die Catinca Tabacaru Gallery aus Bukarest sexuell konnotierte Pferdesattel-Skulpturen von Catinca Malaimares und Ovidiu Toaders hybride posthumane Formfindungen ab 4000 Euro an. Aber auch Bekanntes für Einsteigerpreise sind zu finden wie die kleinen poetischen „Field Notes“ von Richard Nonas ab 1.5000 Euro bei der Wiener Galerie Hubert Winter. Die Steinskulptur von Mona Saudi am Stand von Lawrie Shabibi (New York, Dubai) dagegen markiert das obere Preisende mit 200.000 US-Dollar. Die 1945 in Jordanien geborene Künstlerin lebte bis 2022 im Libanon und gilt als wichtigste Vertreterin der Moderne im Nahen Osten, ist in Europa aber noch kaum bekannt.
Am Nachbarstand der Turiner Galerie Bar wartet gleich die nächste Entdeckung, die wunderbaren Zeichnungen und abstrakten Steinskulpturen der 1929 geborenen italienischen Künstlerin Lydia Silvestri – zwei ähnliche, aber doch subtil unterschiedliche Modernistinnen. Beide Stände gehören zur heuer auf Künstlerinnen konzentrierten Sektion Back To The Future. Nahezu jeder Stand der zehn Galerien hier überzeugt mit Positionen, von denen man sich eine große Retrospektive wünscht wie die von Höhlenmalereien inspirierten Wandkeramikobjekte der 1960er Jahre von Franca Maranò (Richard Saltoun Gallery), die zur feminstischen Avantgarde Italiens gehört.
Oder die außergewöhnlichen Wandobjekte und Bilder von Clemen Parrocchetti (ChertLüdde, Berlin). Die 1923 geborene, 2016 gestorbene Italienerin verbindet feministische Inhalte mit einer eigenwilligen, surrealistischen Bildsprache, mit der sie ihr gesamtes Schloss im gut eine Autostunden nördlich von Genua entfernten Borgo Adorno in ein „Haus-Museum“ verwandelte.
Aber nicht nur in der Back To The Future-Sektion, auch im Hauptteil sind Entdeckungen zu machen wie bei der Wiener Exile Galerie, der die zarten Fäden-Verspannungen von Kazuko Miyamoto zusammen mit der in Wien lebenden Kerstin von Gabain zeigt. Miyamoto wurde 1942 in Japan geboren, lebt in New York und arbeitete lange im Atelier von Sol LeWitt. Sie gilt als ´feministische Minimalistin´, im Belvedere ist nächstes Jahr eine große Personale geplant.
Luxus von 50 assoziierten Kuratoren
Exiles Stand gehört zur Sektion Monolog/Dialog, 68 Galerien leisteten sich heuer den Luxus solcher reduzierter Präsentationen, die Hälfte davon kuratiert. Denn das ist neben dem Schwerpunkt auf Entdeckungen die nächste Zutat für das Erfolgsrezept der Artissima: Rund 50 Kuratoren und Kuratorinnen arbeiten ganzjährlich mit Artissima zusammen, wählen Einzelpositionen für die Sektionen Back to the Future, Present Future (zeitgenössische Kunst) und Disegni (Papierarbeiten) aus, führen über die Messe oder sind Teil der Jurys für stolze elf auf der Messe vergebene Kunstpreise plus zwei Funds – und bringen oft auch die Freundeskreise ihrer Institutionen als Gäste mit. 34 Patron Delegationen besuchten heuer die Messe, 1.600 Sammler aus aller Welt seien heuer erstmals gekommen, darunter auch einige der Bekanntesten aus Belgien, betont Fassi.
Die Messe als Stadterfahrung
Die assoziierten Kuratoren bestimmen die gesamte Ausrichtung der Artissima, erklärt Messedirektor Luigi Fassi im Gespräch. „Bei der Auswahl der Künstler und Galerien denken wir die Museen mit“, fasst er es zusammen. Fragt man die Galerien, warum sie an der Messe teilnehmen, sprechen alle unisono von einer „Kuratorenmesse“. Martin Janda betont, dass Artissima anders als viele andere Messen inhaltlich ausgerichtet sei, „hier geht es um die Kunst“. Silvia Steinek fügt den Aspekt eines „starken Netzwerks“ mit Institutionsleitern und Sammlern hinzu. Helga Krobath nennt einen weiteren, entscheidenden Punkt: Sammler fahren gerne nach Turin und werden von der Messe bestens betreut. „Die Messe ist eine Stadterfahrung“, nennt Fassi das Paket von spannender Kunst, Sammlern, der richtigen Messemischung und hochkarätigen Ausstellungen in der Stadt, wo heuer Michelangelo Pistoletto seine Gesamtwerk umfassende Installation im Castello Rivoli zeigt und Sarah Szes ihr Mulitmedia-Werk „Metronome“ im OGR, das den Datenfluss unseres täglichen Lebens geballt zusammenbringt. Darin sieht Fassi die zentrale Zutat des Erfolgsrezepts: Kooperationen – mit Galerien, Kuratoren, Museen, aber auch mit regionalen, privaten Unternehmen. Die seien Partner, nicht Sponsoren, betont er, da sie gemeinsame Projekte umsetzen wie der Fußballverein Juventus Turin, der ein Kinderworkshop auf der Messe finanziert – Fassi nennt es selbstbewusst das „Turiner Modell“.