Lesen Sie manchmal die Vogue? Wenigsten beim Zahnarzt? Wahrscheinlich denken Sie dann, dass es nur ein Hochglanz-Modemagazin sei. Aber Sie irren sich! Zumindest in den Jahrzehnten von 1910 bis 1979 hat das Conde Nast-Imperium grandiose Fotografen unter Vertrag genommen. Dank ihrer Fotoabzüge für Vogue und weitere Magazine wie Vanity Fair entstand ein Fotografie-Archiv, aus dem jetzt in Venedig für einen grandiosen Blick auf das 20. Jahrhunderts geschöpft wird. Im Palazzo Grassi zeigen uns 390 Fotografien und 17 Illustrationen aus jenen Jahrzehnten nicht nur Modetrends, sondern auch die Träume und Sehnsüchte der vergangenen Jahrzehnte. Und vor allem ein faszinierendes Kapitel der Fotografie-Geschichte. Denn als der 1873 in New York geborene Diplomatensohn Conde Matrone Nast die Zeitschrift Vogue 1909 kaufte, läutet er ein neues Kapitel in der Magazingeschichte ein. Die von Nast unter Vertrag genommenen Fotografen schufen für die Magazine aufwendige und oft meisterhafte Bilder.
Conde Nast gehören bis heute nicht nur die Abbildungsrecht der Auftragsarbeiten von so prominenten Fotografen wie Irving Penn oder Horst P. Horst sondern auch die Originalabzüge. Das änderte sich mit den neuen Urheberrechten 1979, das den Fotografen mehr Rechte am eigenen Werk einräumt. Aber aus den Jahrzehnten davor lagern hunderttausende dieser frühen Abzüge im Archiv in New York, wie Conde Nasts Archiv-Direktor Ivan Shaw erwähnt. Dort begann Matthieu Humery zu recherchieren, erst, um einzelne Abzüge als Ankäufe für die Pinault Sammlung herauszusuchen. Dann führte seine Recherche zur Ausstellungsidee für das Palazzo Grassi in Venedig, wo jetzt eine kleine Auswahl unter dem Titel „Chronorama“ ein Jahr lang zu sehen ist. Der Titel ist ein Neologismus: chrono für Zeit, rama für Panorama.
Das Archiv der Vogue als magischer Ort
Humery spricht beim Presserundgang in Venedig von dem Archiv als „magischer Ort“. Er ist Fotografie-Kurator der französischen Pinault Collection. Dem französischen Milliardär, Eigentümer von Modemarken wie Gucci und Yves Saint Laurent, gehört der Palazzo Grassi am Ufer des Canal Grande. Ursprünglich wollte Humbery nur einige Ergänzung als Ankauf für die Sammlung auswählen, konzentrierte sich auf Irving Penn und Edward Steichen. Im Archiv öffnete er eine Kiste nach der anderen – und war begeistert. Im 20. Jahrhundert machten Fotografen keinen Unterschied zwischen Presse- und Kunstfotografie. All die historischen, zur Veröffentlichung vorgesehenen Original-Fotoabzüge zeugen von höchster Qualität. Am Ende kaufte die Pinault Collection „mehrere Tausend Foto-Abzüge“, wie Palazzo Grassi-Direktor Bruno Racine verrät. Daraus stellte Humbery eine kleine Auswahl für einen nach Jahrzehnten geordneten Parcours zusammen.
Anfangs sind noch Illustrationen dazwischen gestreut, die damals vor allem für die Magazin-Cover entstanden, als farbige eye catcher. Die Fotografien in den 1910er Jahren zeugen von einer mitreißenden Lebenslust, zeigen Modelle in exzentrischen Posen und malerisch-fließenden Kleidern vor brillant scharfem Hintergrund. In der feinen Palette der Grau- und Brauntöne sieht man den Einfluss der Piktorialisten, die die Grenze zur Malerei aufheben wollten. Wie abwechslungsreich und elegant die Posen damals waren verglichen mit dem Einerlei der heutigen Selfies!
In den 1920er Jahren kommen dann beeindruckende Schattenspiele dazu, wenn etwa Nickolas Muray den Zauberer Fred Keating für die Vogue portraitiert oder Edward Steichen Brancusis Skulpturen wie einen Bühnenhelden ausleuchtet. In den 1930ern nehmen die angeschnittenen Körperpartien zu, um die Modelle perfekt in Szene zu setzen. Hier sind in der Ausstellung auch ab und an Reportage-Aufnahmen eingestreut, 1934 von Stalin oder der französischen Resistance in den 1940ern. Das Hauptthema bleibt jedoch ein Leben in Luxus und aristokratischem Lebensstil. 43 Fotografien erzählen dann von den 1950er Jahren, als die weiße Mittelschicht die Leserschaft der Vogue stellte, die Zeitschrift aus Angst um ihre Kundschaft keine Experimente einging und die Mode in glamourös idealisierten Fotografien zelebrieren ließ. Aber in den Posen und Blicken der weiblichen Modelle kündigt sich bereits ein neues Selbstbewusstsein der Frauen an, das in den 1960er Jahren in den Fotografien zu einer neuen künstlerischen Sprache führt: Statt der geheimnisvollen Schönheit präsentieren die Fotografen die freche Frau, die herausfordernd in die Kamera blickt. Statt weicher Farbverläufe dominieren scharfe schwarz-weiß Kontraste.
Erst in den 1970er hält die Farbfotografie Einzug, von der nur sehr wenige Beispiele ausgestellt sind. In diesem Jahrzehnt wird die Idee der alten Elite verabschiedet, spontan erscheinende Arrangements und vor allem die erotischen Inszenierungen von Helmut Newton provozieren die Sehgewohnheiten.
Am Ende der Ausstellung möchte man sofort wieder von vorne beginnen, um die Fotografien erneut unter anderen Erzählsträngen anzuschauen: nur die Mode betrachten, nur die Sehnsüchte suchen, nur die Trends und Träume, nur die Darstellungen von Frauen. Und sich in einem letzten Gang dann nur auf die Meisterwerke konzentrieren, auf die grandiosen Farbverläufe und Lichtspiele und Kompositionen. Warum eigentlich hat Conde Nast Teile ihres großartigen Schatzes verkauft? Die Werke wurden geschaffen, um gesehen zu werden, betont Ivan Shaw: „Unsere Fotografien erhalten jetzt mit der Ausstellung im Palazzo Grassi ein neues Leben, können inspirieren. Und werden durch die Pinault Sammlung zu Kunstwerken“.
Palazzo Grassi, Venedig, Chronorama, 11.3.2023 – 8.1.2024
veröffentlicht in: Die Presse, 14.3.2023